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Plakatmotiv: In den Gängen (2018)
Poesie im Neonlicht
einer Großmarkthalle
Titel In den Gängen
Drehbuch Clemens Meyer + Thomas Stuber
nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer
Regie Thomas Stuber, Deutschland 2018
Darsteller Sandra Hüller, Franz Rogowski, Peter Kurth, Henning Peker, Ramona Kunze-Libnow, Gerdy Zint, Andreas Leupold, Michael Specht, Steffen Scheumann, Clemens Meyer, Sascha Nathan u.a.
Genre Drama
Filmlänge 125 Minuten
Deutschlandstart
24. Mai 2018
Inhalt

Der schweigsame Christian tritt eine neue Stelle im Großmarkt an. Bruno aus der Getränkeabteilung nimmt ihn streng, aber wohlmeinend unter seine Fittiche und zeigt ihm, wie die Dinge in dem kleinen Universum funktionieren. Die beiden werden schnell Freunde.

Auch die anderen Mitarbeiter behandeln Christian bald wie ein Familienmitglied. Als er sich in Marion von den Süßwaren verliebt, drückt der ganze Großmarkt ihrer Liebe ganz fest die Daumen. Einziges Problem: Marion ist bereits verheiratet. Obwohl es heißt, sie sei in ihrer Ehe nicht glücklich, respektiert der schüchterne Christian ihr Gelübde und hält seine Hormone so gut es geht im Zaum.

Die beiden kommen sich dennoch näher und bald ist klar, dass auch Marion Gefühle für ihren Kollegen hegt …

Was zu sagen wäre

Wenn Christian Marion zum ersten Mal sieht, ausschnittsweise durch das Regal voller Flaschen hier und Kekspackungen dort, blendet der Ton von der rumpelig-klirrenden Großmarktatmosphäre über in ein sanftes Meeresrauschen am Strand. Diese Marion, von der Christian noch nicht weiß, dass sie Marion heißt, ist für ihn wie eine frische Brise. Das passiert zweimal. Es sind die einzigen Momente, in denen Thomas Stuber in seinem Film die Realität der Großmarkthalle verlässt, in Poesie überhöht. Sonst spielt der Film im realen Hier und Jetzt irgendwo draußen zwischen Dresden und Leipzig – wobei letzteres nur als Synonym für deutscher Osten, früher DDR, steht.

Die Großmarkthalle selbst könnte wohl überall stehen, die Menschen in dieser speziellen aber nur im Osten zuhause sein. Sie leben in diesem Kosmos zwischen den Regalen ihr DDR-Leben im Kleinen weiter. Während in unserer realen Welt der Supermärkte längst Leih- und Zeitarbeiter Regale auffüllen, haben sich hier ein paar Überlebende eine Welt geschaffen, die nach klaren Regeln funktioniert, inklusive „Lass Dich bloß nicht erwischen“, in Sektoren aufgeteilt ist, hier die Getränke, nebenan die Süßwaren, da hinten sind die Konserven und ganz am anderen Ende dieser Welt ist Non Food. Da hat jeder Sektor seinen Gabelstapler, „nur Sibirien nicht. Da isses zu eng!Sibirien nennen sie den Sektor für die Tiefkühlkost.

Jenseits der Regale, dort, wo Kunden ihre Einkaufswagen schieben und die Ware kaufen, die die Lageristen dort auffüllen, beginnt der Westen. Dort tobt der Konsum, wird Ware gegen Geld getauscht, eine Welt, die für die Frauen und Männer im blauen Kittel mit den akkurat gesteckten Kugelschreibern und dem Teppichmesser in der linken Tasche unerreichbar bleibt – wie damals, als die Mauer noch stand, die heute durch die hohen Regale ersetzt ist. Stuber feiert den Geist dieser Leute in den Gängen, ihren stille Loyalität, ihren Zusammenhalt gegen die Bosse im ersten Stock, die man nie zu Gesicht bekommt. Es wäre so leicht gewesen, aus dem Stoff einen Sozialporno zu drehen mit grauen Wolken, trister Melancholie und ausweglosem Früher war's besser.

Statt dessen zeigt die Kamera, wenn sie die große Markthalle mal verlässt, vielfarbige Abendstimmungen über dem flachen Land, einen freundlichen Busfahrer, der einen schlafenden Fahrgast an der Haltestelle darauf aufmerksam macht, dass er doch „sonst hier immer aussteigt“, da wird selbst ein Geburtstagsgruß per Yes-Torty am Kaffeautomaten in einem hässlichen Pausenraum mit einer vergilbten Palme-in-der-Südsee-Tapete zum romantischen Herzbeben, zur Feier wortloser Herzlichkeit des einfachen Mannes; wir aufgeklärten Wirtschaftswunderkinder fanden die TV-Spots mit den Geburtstags-Yes-Tortys immer scheußlich, kitschig – Mach sowas einmal an meinem Geburtstag und wir sind geschiedene Leute – und hier, Neon, Pausenraum, vergilbte Palme, staunen wir über die Wirkmächtigkeit dieses Schokoteils mit reingestopfter Kerze. Vielleicht, weil das Schokoteil aus dem Mülleimer kommt, aus dem sich unsere Frauen unbd Männer in Blau hauptsächlich zu ernähren scheinen.

Jeden Tag schmeißen sie Berge von Keksen, Würsten, abgepackten Salaten und Pizzen in die Container im Hinterhof, Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen; „Wennde davon wat mit nach Hause nimmst, kannste gleich de Papiere holen. Lass Dich bloß nicht erwischen“, sagt Bruno, reißt ein Zehnerpack Wurst aus der Tonne auf und steckt sich eine in den Mund. Leben und Leben lassen, wie es alt gewordene Bewohner von Drüben über ihr altes Leben gerne erzählen – Wir hatten ja nüscht außer unserer Soldarität. Während die Kundschaft (der Westen) Geld für die frische Ware hergibt, leben die Angestellten (der Osten) von dem, was übrig bleibt, was die Kunden nicht wollten. Ein Klassenkonflikt in Bildern, die en passant die Wegwerfmentalität der Konsumgesellschaft thematisieren.

Es ist selten geworden, dass eine Geschichte im Film so konsequent über seine Bilder erzählt wird, auf Dialog weitgehend verzichtet. Thomas Stuber wählt lange Einstellungen, immer wieder Totalen der langen Regalreihen, dann ruhige Fahrten, in denen die Kamera die Gabelstaplerfahrten begleitet, Großaufnahmen von Gesichtern, die lange stehen. Bei einer der seltenen Ausflüge ins private Leben der Blaukittel sehen wir eine Küche, und ohne, dass das irgendwie annonciert werden müsste durch Musik oder verräterische Zwischenschnitte ist sofort klar, dass das, was der Bewohner dieser Küche da über sein Leben erzählt, nicht wahr sein kann, nur die Fiktion eines anderen – ehemaligen? – Lebens ist. Dass mich das Bild einer unaufgeräumten Küche im Kino mal so beeindrucken würde, war schwer vorstellbar.

Der Film bleibt stets nah und mit großer Sympathie bei seinen Hauptdarstellern, liefert sie – Stichwort: Sozialporno – nie der klischeehaften Plattenbauarmut aus. Er schaut ihnen zu, registriert, dass ein Lagerarbeiter keine großenn Sprünge machen kann, sie aber in diesem sozialen Umfeld der Großmarkthalle auch nicht braucht. Die warme Menschlichkeit, die den Film durchströmt, ist mehr wert, als all die Waren, die die gesichtslosen Kunden in ihren Einkaufswagen an die Kassen rollen.

Stuber konnte für seinen zweiten Langfilm auf einen beeindruckenden Cast setzen. Den Bruno, „früher Fernfahrer, jetzt Staplerfahrer“, der Christian mit väterlicher Strenge in die Tricks und Kniffe der Arbeit zwischen den Regalen einweist, spielt Peter Kurth, der für Stuber in dessen Erstling „Herbert“ den Titelhelden gespielt hat und seit einigen Jahren zur regelmäßigen Stammbesetzung großer TV-Produktionen zählt. Kurths Bruno ist außen knurrig, innen herzlich und die Seele, die den Laden zusammenhält. Sandra Hüller, deren Namen jeder Kinogänger in Deutschland kennt, seit sie die gestresste Managerin und Tochter in Maren Ades Toni Erdmann gespielt hat, spielt die Marion mit schüchterner Angriffslust und zurückweichender Zielstrebigkeit; wenn Marion sich freut und ihr Gesicht sich entschließt zu lächeln, weicht das kalte Neonlicht der Großmarkthalle dem einer Tropensonnne. Und dann ist da Frank Rogowski als Christian, der Mann der wenigen Worte. Rogowski hat gefühlt nur wenig mehr Sätze im Drehbuch als einst Arnold Schwarzenegger im ersten Terminator-Film. Er lässt sein Gesicht sprechen. Und das spricht Romane, mehrere Bände. Ich habe Rogowski schon hier und da mal wahr genommen, auch Sandra Hüller. Aber nicht so.

Thomas Stuber hat mit langen Einstellunngen und ruhiger Montage seinen Schauspielern die Gelegenheit gegeben, sich durch Präzision, Instinkt und kleine Gesten Ikonenstatus zu erspielen: Rogowski? War das nicht der Gabelstaplerfahrer aus „In den Gängen“? Ein sich im pixelstarken, laut krachenden Kinofrühling 2018 durch sauberes Handwerk und kluge Bildsprache abhebendes Meisterwerk des modernen Kinos.

Wertung: 8 von 8 €uro
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