Mogli ist im Dschungel aufgewachsen. Ein Wolfsrudel hatte das Menschenkind einst auf Bitten des Panthers Baghira in seine Mitte aufgenommen. Baghira hatte das Waisenkind irgendwo im Dschungel aufgelesen. Das ging einige Jahre lang gut. Der Junge lernte, unter Wölfen zu leben, mit ihnen zu spielen, lernte die Regeln des Dschungels; nur in einem tut er sich schwer. Er ist kein Wolf. Er kann nicht so flink durchs Unterholz jagen, wie seine Stiefbrüder. Aber er kann etwas anderes. Er kann Werkzeuge bauen, sich mit einfachen Mitteln an der nahen Wasserstelle, an der eine klare Rangfolge herrscht, vordrängeln, ohne andere zur Seite zu drängen.
Baghira gefällt das gar nicht. Derlei Tricks sind im Dschungel verpönt. Tiere tricksen nicht. Aber wie sonst soll der Junge überleben, wenn er nicht seine Kniffe, die Kniffe der gefürchteten Menschen, anwenden darf? Die Frage bekommt unerwartet schnell Brisanz. Eine große Gefahr ist heimgekehrt in die Gegend: der Tiger Shir Khan. Der Tiger hat das Menschenkind gewittert und macht der friedlichen Gemeinde an der Tränke klar: entweder, Ihr liefert mir den Jungen aus, oder ich werde Euch Mores lehren. „Menschen“, sagt der Tiger, „sind die größte Gefahr für uns alle. Vielleicht nicht heute. aber wenn der Junge zum Mann geworden ist, ist er tödlich“. Die Tiere sind angespannt, aber nicht ängstlich: Hier an der Tränke darf selbst der mächtige Tiger mit dem entstellten Gesicht nicht angreifen; das verbieten die Gesetze des Dschungels, über deren Einhaltung die Elefanten wachen – mit denen sich nicht mal ein Shir Khan anlegen will.
Mogli wird an diesem Tag klar, dass er nicht im Rudel bleiben kann. Er kann seine Familie nicht gefährden, nur weil er anders ist und Shir Khan einen unerklärlichen Hass auf ihn zu haben scheint. Er entschließt sich, in die Menschensiedlung zu gehen. Baghira soll ihn begleiten. Das klappt nicht so ganz. Shir Khan hat den Plan gewittert und greift Baghira an. Während Tiger und Panther ihre Krallen in das Fleisch des anderen rammen, gelingt es Mogli zu entkommen. Irgendwohin, tief im Dschungel.
Mogli ist auf sich gestellt, hat keine Familie, keine Gruppe, kein Rudel, das ist neu für ihn. Dass es auch gefährlich ist, ahnt er nicht und dann ist es zu spät. Kaa hat ihn umgarnt. Die Monsterpython umkreist ihn, wickelt ihn ein mit Geschichten aus seiner Vergangenheit, Geschichten über Mogli und wie er in den Dschungel kam. Gerade, als sie ihr Maul ganz weit aufreißt, um den den Jungen am Stück zu verschlingen, reißen gewaltige Tatzen die Python aus ihrem Lunchpaket. Ein Bär greift an und befreit den Jungen aus der tödlichen Falle.
Balu, so heißt der Bär, scheint – ganz selbstlos – zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Aber ganz so selbstlos ist der gemütliche Bär nun auch nicht. Er braucht den Jungen. Balu braucht vor allem dessen technische Tricks, ohne die er nicht an den goldenen Honig der Bienen herankäme. Da lauert im Hintergrund schon die nächste Gefahr.
König Louie entführt den Jungen. Der Orang-Utan-ähnliche Gigantopithecus will von Mogli ultimativ erfahren, worin das Geheimnis des Feuers besteht, das im Dschungel als mysteriöse und tödliche Sache gilt und einfach nur Rote Blume genannt wird. Jetzt hat Mogli ein richtiges Problem: Er hat nämlich keine Ahnung, was es mit dieser Roten Blume auf sich hat …
Spätestens, wenn Kaa, die Python, auftaucht, ist klar: Das ist kein niedlicher Spaßfilm! Da durften wir zuvor schon erleben, wie Shir Khan sich zu nehmen gedenkt, was er haben will, haben in sein leeres Auge geblickt, dass er im Kampf gegen – offenbar – einen Menschen verloren hat und seine unzweideutige Drohung gehört. Und schon die hat wenig von dem Zeichentrick-Shir-Khan aus dem Jahr 1967, der ein eloquenter Vertreter des Alten Adels war, aber bei aller Düsternis eben ein gezeichneter Charakter blieb.
Großes Abenteuer in großen Bildern
Jon Favreau (Kiss the Cook – 2014; Cowboys & Aliens – 2011; Iron Man 2 – 2010; Iron Man – 2008; Zathura – Ein Abenteuer im Weltraum – 2005) turnt von Anfang an einen Spagat: Die durch klare Regeln geordnete Welt mit sprechenden Tieren, die human und niedlich wirkt (ein bisschen, wie die Welt des Zeichentrickfilms) kontrastiert mit der Welt des Dschungels, der eine unbarmherzige Nahrungskette definiert – Survival of the fittest. Und mit diesem Spagat muss er dann einen Abenteuerfilm erzählen, in dem ein Junge mit Tieren interagiert für ein Publikum, dass tricktechnisch abgebrüht ist und einen halbgaren Kindergeburtstag – Alle Tiere sind schon da – nicht akzeptieren würde. Favreau macht das clever, bedient die Klaviatur der Erwartungen phantasievoll.
Zeichentrickfilm 3.0
Dieser Film ist ein Zeichentrickfilm, wie sein legendärer Vorgänger, nur dass er halt – 50 Jahre später – nicht mit Kohle und Tusche gemalt wurde, sondern mit Bits and Bytes; dazu kommt ein Schuss Roger Rabbit: statt Bob Hoskins mit Zeichentrickfiguren spielt, rennt und redet heute Neel Sethi eben mit Pixeln. Aber das Prinzip ist das Gleiche und zu Beginn wirkt das in Favreaus Film mit den zu sehr auf den 3D-Effekt designten Bildern eben wie ein launiger Kinderfilm; er ist ab 6 Jahren freigegeben, was zu jung für diesen Film ist. Für kleine Kinder wird die gepixelte Realität in den Schreckmomenten zu real.
Wenn nach einer halben Stunde die Figuren platziert, das Drama umrissen, Gut und Böse einigermaßen geklärt sind, kommt Kaa, das Monster. Da ist nichts mehr fröhliches Abenteuer-ChiChi. Kaa ist Horror – gnadenlos. Jessica Schwarz als Kaas deutsche Stimme (im Original ist das Scarlett Johansson) macht einen guten Job, wenn sie unhheimliche Dinge aus der Vergangenheit über jene Rote Blume erzählt – hier blühen auch die CGI-Künstler des Film zu voller Größe auf – und Mogli in die Besinnungslosigkeit hypnotisiert. Und während auf der Tonspur die Glaube mir-Melodie aus dem 1967er-Klassiker sich in den Gehörgang schmiegt, reißt das Monster sein Maul weit auf.
Der gemütliche Bär ist ein Egoist
Und dann kommt Balu, der Probier‘s mal mit Gemütlichkeit-Bär, der auf ewig mit der sonoren Stimme Edgar Otts verknüpft bleibt. Jetzt ist Armin Rohde seine Stimme und der kann auch anders als gemütlich. Rohde bringt die Ambivalenz des gemütlichen Bären zum klingen. Balu mag gemütlich sein, aber – Gesetz des Dschungels – er nimmt sich, was er kriegen kann und es ist ihm ein Leichtes, des Jungen zu instrumentalisieren, dessen (im bei den übrigen Dschungelbewohnern verpönten) Tricks zu nutzen, um den Bienen ihren in großer Höhe produzierten Honig zu klauen. Jon Favreaus Balu ist ein Egoist. Neben Balu tauchen zunehmend niedliche Knuddeltiere auf. Die verkaufen sich nicht nur anschließend gut in den Spielzeugläden, sie dienen, wie die klassischen Sidekicks aus den Disney-Animationsfilmen, als comic relief, die hier und da einen Charakter erklären – oder in Balus Fall – einen vermeintlich selbstsüchtigen Charakter erden sollen.
Ich hänge fest in dem Vergleich zum Original – und die Produzenten offenbar auch: Größtes Manko gegen die Rundum-Stimmigkeit des aktuellen Films ist, dass Balu sowie King Louie, der hier als veritabler Unterweltboss auftaucht, tatsächlich ihre alten 1967er-Hits singen. Schon ohne diese Unnötigkeit wirft natürlich das Original einen großen Schatten – um in diesem Schatten zu bestehen oder gar herauszutreten, muss jede Neuinterpretation begründet werden: Braucht man das in Neu? In 3D? In Pseudo-Real?
Der unvermeintliche Vergleich
Um diese Frage zu beantworten, stelle ich statt dessen ein lieb gewordenes Denkmal in Frage, um den Blick zu schärfen: Was genau erzählt eigentlich Wolfgang Reithermanns klassischer Zeichentrickfilm? Nicht so richtig viel für 78 Minuten: Ein Junge, ein Gemütlichkeit singender Bär, ein eleganter Panther, ein swingender Affe, ein böser Tiger, marschierende Elefanten ein großäugiges Mädchen, das dem Jungen (und uns Zuschauern) als die optimale Lösung verkauft wird. Punkt. Keep it simple. Daraus werden Klassiker gemacht.
Aber lösen wir uns davon: Jon Favreaus Version bietet unterm Strich schon ein wenig mehr – und das kaum weniger unterhaltsam. The Jungle Book 2016 thematisiert das Fremdsein, die Angst vor dem Anderen, erzählt, wie leicht Minderheiten instrumentalisiert, verantwortlich gemacht werden für irgendein gerade am Wegesrand herumliegendes Übel. Es erzählt aber auch von der Kraft der Gemeinschaft, die sich nicht so ohne Weiteres blenden lässt. Hier spielen die Elefanten eine große Rolle, die bei Favreau weder marschieren noch singen müssen; sie bekommen einen der großen Gänsehautmomente in diesem Film. Nach Zoomania hält uns in diesem Frühjahr, in welchem Migration ein so beherrschendes Thema ist, die Angst vor dem Fremden, schon der zweite Tier(trick)film den Spiegel vor.
Pixel Posing am Rande des Machbaren
Unversehens liefert "The Jungle Book" viel mehr, als reines Pixel Posing. Die Bilder, die Interaktion von Real und CGI, sind gelungen. Stolpern die Protagonisten zu Beginn noch etwas hölzern über die Leinwand, legt sich das mit zunehmender Intensität des Dramas. Favreaus Pixel-Künstler können es nicht einmal lassen, die dickfelligen Wölfe auch noch im strömenden Regen zu inszenieren – Fell und Regen gehören zu den diffizilsten Animationen überhaupt und in diesem Urwaldregen scheitern die Designer auch, wenn man streng schaut. Aber schauen wir hinter die mächtige Pixel Power, sehen wir das Drama einer Menschwerdung mit all seinen Unbilden.