Buchcover: Montecristo
Globalisierung, schwitzende Anzugträger,
eine Verschwörung – wunderbar erzählt
Titel Montecristo
Autor Martin Suter, Schweiz 2015
Verlag Diogenes
Ausgabe E-Book, 320 Seiten
Genre Roman
Website diogenes.ch/martin-suter.html
Inhalt

Ein Personenschaden in einem Intercity und zwei zufällig entdeckte Hundertfrankenscheine mit identischer Seriennummer: Auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick schon.

Jonas Brand arbeitet als Reporter für die Boulevardpresse. Bis er seinen Durchbruch schafft – auf den er seit Jahren zunehmend entmutigt wartet: als Filmregisseur. Ein Exposé seines vermeintlichen Meisterwerkes „Montecristo“, eine moderne Fassung des Klassikers "Der Graf von Monte Christo". Nur leider fehlt der Geldgeber. Ein wenig frustriert geht er seinem Beruf nach, in dem er sich unterfordert sieht, bis er eines Tages über die größte Story seines Lebens stolpert.

Ein Intercity kommt gewaltsam zum Stehen. Schnell ist klar, Personenschaden, jemand hat sich vor den Zug geworfen. Jonas Brand schultert seine Kamera, hält die beklemmende Situation fest und befragt die Mitreisenden. Drei Monate später, inzwischen ist er schwer verliebt in die Eventmanagerin Marina Ruiz, passiert ihm ein nahezu unmöglicher Zufall. Beim Auslegen des Geldes für seine Haushälterin entdeckt er zwei Hundert-Franken-Scheine mit der gleichen Seriennummer. Er fragt bei seiner Bank nach und recherchiert bei der Firma Coromag, die die Geldnoten für die gesamte Schweiz herstellen, und erhält die Bestätigung, dass beide Noten echt sind.

Kurz darauf wird seine Wohnung durchsucht und er selber überfallen. Er wendet sich an einen alten Kollegen, Max Gantmann, der einst als Wirtschaftsexperte im Fernsehen ein Star war. Beide beginnen sich für die seltsamen Geldscheine zu interessieren und Jonas beschäftigt sich nochmals mit dem Personenschaden im Intercity. Denn der vermeintliche Selbstmörder dort war ein Top-Trader bei der größten Schweizer Bank, so dass die beiden Ereignisse in einem Zusammenhang stehen könnten. Und plötzlich sind hinter Jonas und seinem Freund Max scheinbar übermächtige Gegner her …

Was zu sagen wäre
Montecristo

Ein Finanzkrisenthriller. Ein Traum für alle Verschwörungsfans. Wunderbar fabuliert. Großartig erzählt. Martin Suter erzählt durch Auslassen, das wirkt elegant und frisch. Sätze wie „Auch sie hatte sich angesichts der Weinkarte für ein indisches Kingfishers Beer entschieden“ oder „… eine Fundraising-Party, bei der die Prominenz der Stadt mit viel Trara nicht so viel Geld für einen (…) wohltätigen Zweck sammelte“ funktionieren auf den ersten, entfalten ihre Schönheit aber erst auf den zweiten Blick.

Mit dieser doppelbödigen Leichtfüßigkeit zieht Suter seine Leser aufs Sofa, entwickelt in wenigen Sätzen glaubhafte Biografien. Sein mutmaßlich gescheiterter Protagonist und Möchtegern-Regisseur ist einfach nur am Alltag gescheitert: „Aber in den Jahren seiner Selbständigkeit waren die TV-Aufträge nicht weniger geworden. Im Gegenteil, der Name Jonas Brand hatte sich inzwischen einen Stammplatz erobert in den Vor- und Abspannen der Beiträge des People-Magazins.“ In diesen zwei Sätzen kulminiert Suter das ganze Drama pekuniärer Ablenkung bei zahllosen freischaffenden Künstlern, die ihr Brot auch bezahlen müssen, bevor sie, vielleicht, von ihrer freischaffenden Kunst leben können. Dieser Brand ist über die bald vierzig Jahre seines Lebens müde geworden. Suter beschreibt ihn als einen „sensiblen, gefühlsbestimmten, oft auch sentimentalen Menschen. Den Minimalismus hatte er nur vorgetäuscht, um dies alles im Zaum zu halten.

Mit der Leichtigkeit seiner Sprache kann sich Suter ein wenig Zeit nehmen, bis er zum Kern seines Thrillers vorstößt. Er beginnt seinen Text mit der Notbremsung des Intercitys nach Personenschaden und malt dabei das Milieu der Berufspendler. Diese empfinden diese Art, sich umzubringen, als unsozial, sehen darin einen Anschlag auf den wohlverdienten Feierabend. Suter entwirft das Portrait gehetzter Zahnrädchen der Finanzwirtschaft, schwitzende, übergewichtige Opfer der Globalisierung. Aufs Geratewohl filmt Jonas Brand ein wenig, sammelt ein paar O-Töne, da ahnt er noch nicht, dass seine Kamera etwas filmt, das später mörderische Relevanz entwickeln soll – nebenbei eine elegante Verbeugung vor Michaelangelo Antonionis Filmkunstwerk „Blow Up“; und der Leser ahnt da noch nicht, dass er hier den zynischen Auswurf jener Großverschwörung erlebt, die den Höhepunkt des Romans bildet, eine Gesellschaft gleichgültiger Anzugträger, denen diese Verschwörung nach fünf Minuten egal wäre, sobald was besseres im anderen Programm kommt. Nach elf Seiten im Intercity steht das Gesellschaftsportrait in suters Roman und dann schreitet er zügig voran.

Auftritte haben Marina Ruiz eine – natürlich – schöne junge Frau, Eventmanagerin, Halbasiatin und für Suter immer wieder Subjekt feuchter Schriftsteller-, Männerträume, wenn er sie nicht für einen klärenden Dialog benötigt. Und da ist Max, ein früherer Polit-Anchorman, der den Tod seiner Frau nicht verwunden hat. Der recherchiert weiter, als Jonas sich doch seinem „Montecristo“ zuwenden kann, für den urplötzlich Millionen Dollar freigemacht werden. Max stößt auf den Fall eines Derivate-Händlers, der einen zweistelligen Milliardenbetrag verzockt und sich kurz darauf das Leben genommen hat – es ist der Tote aus dem Zug und der zweistellige Milliardenbetrag hängt mit der doppelten Notenscheinnummer zusammen, wie überhaupt alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt in der kleinen Blase der Schweizer Society.

In dieser Miniatur macht Suter seinen Anspruch deutlich: Wie weit die Hochfinanz in das Leben Einzelner hineinwirkt und selbst die privatesten Beziehungen korrumpiert. Jonas, der Simplicissimus, der zum Staatsfeind Nummer eins aufsteigt, muss sich entscheiden: Will er als Filmemacher Karriere machen oder als Enthüllungsjournalist. Will er Geschichten erzählen. Oder die Wahrheit? Die ist am Ende anders als erwartet. In Martin Suters Welt – die er mit schweizerdeutschen Begriffen anreichert – „Recherchieren, rekognoszieren, scouten.“ – ist es besser, wir wissen von nichts, ist es besser, als schwitzende Globalisierungspendler im Speisewagen überm Laptop zu sitzen, als die Wahrheit zu erkennen. Niemand, so schreibt er, habe ein Interesse, dass die "große Seifenblase" der Illusionen platzt. Weil sie dazu dient, das System aufrechtzuerhalten.

Die Moral von suters Geschicht‘: Suters dreiteilige These: Alle machen so weiter wie bisher. Die nächste Bankenkrise wird kommen. Der Staat aber, die Politiker, werden die Finanzinstitute auf gar keinen Fall noch einmal retten, also ist ihnen jedes Mittel recht: Wirtschaftskriminalität wird kurzerhand zur Staatsräson erklärt.

Ich habe „Montecristo“ am 18. und 19. September 2016 gelesen.