Die Eheleute Gerald und Jessie Burlingame verbringen ein Wochenende in ihrem abgeschiedenen Sommerhaus am Lake Kashwakamak im Westen Maines. 17 Jahre verheiratet und ihres Ehelebens müde, gibt sich das Paar in der völligen Abgeschiedenheit seines Sommerhäuschens erotischen Fesselspielen hin. Für Jessie, anfangs durchaus davon angetan, verloren diese Spiele schon vor langer Zeit ihren Reiz, und sie erduldet sie längst einzig ihrem Mann zuliebe.
Dieses Mal jedoch, von ihrem Gatten ans Bett gefesselt, kommt in Jessie eine jähe Abscheu dagegen auf, sich den Gelüsten ihres Mannes hinzugeben, und sie fordert ihn auf, von ihr abzulassen. Gerald, der glaubt, dass Jessies Widerstand vorgetäuscht und Teil des Spiels sei, lässt jedoch nicht von ihr ab. Als er sie weiter bedrängt, versetzt Jessie ihrem Mann einen harten Fußtritt. Gerald erleidet daraufhin einen Herzinfarkt und stirbt nur Sekunden später.
Gerald tot neben dem Bett, sie selbst mit Handschellen an das massive Holzgestell des Bettes gefesselt und in dem völlig menschenleeren Gebiet um den See ohne Hoffnung, dass ihre Hilferufe gehört werden, gerät Jessie rasch in Panik und beginnt bald, die Stimmen ehemaliger Highschool-Freundinnen zu hören. Schnell wird jedoch klar, dass diese Stimmen verschiedene Aspekte der Persönlichkeit Jessies repräsentieren, und im inneren Dialog mit ihnen gelingt es Jessie – während ein Hund begonnen hat, den toten Gatten anuzufressen –, die schwierige Beziehung zu Gerald oder den lange verdrängten sexuellen Missbrauch durch ihren Vater, als sie zwölf Jahre alt war, zu verarbeiten.
Und dann steht plötzlich dieser unförmige Mann im Raum …
Ein Albtraum. Versiert erzählt. Stephen King erweitert seine Palette. Nachdem er zahlose Gruselgeschichten erzählt hat, in den der Grusel meist durch den Nachbarn, den Verläufer oder durch einen Ladenbesitzer entsteht, der sich als übernatürliche Entität entpuppt, ist bleibt er in „Gerald‘s Game“ ganz und gar in der Realität und deren Möglichkeiten; selbst ein als geisterhaft empfundener Mann, der sich bisweilen in den Schatten des Zimmers herumdrückt und eine Taschen mit lauter Knochen herzeigt, enmtpuppt sich zum Ende hin als reale, aber nichtsdestotrotz gruselige Figur. In gewisser Weise hat King auch in „Cujo“ (1981) schon eine ganz und gar realen Albtraum erzählt: ein Bernhardiner, der durch den Biss einer Fledermaus tollwütig wird. Aber der Vergleich hinkt angesichts des monströsen, das der Hund dann lostritt. Im vorliegenden Fall taucht auch ein Hund auf, der Grausiges tut, dabei aber ganz seinem unverdorbenen, tierischen Instinkt gehorcht.
Es ist also der Horror schlechthin, den Stephen King hier beschreibt. Eine Frau mit Handschellen an ein Bett gefesselt, bekleidet nur mit ihrem Höschen, das Fenster offen, während draußen die Herbstkühle in nächtliche Kälte übergeht, durstig, das Glas aber aber in unerreichbarer Nähe – und ein Hund knabbert den toten Ehemann an. Das King dieses Spiel nicht ausser Kontrolle gerät, zeigt seine schriftstellerischen Qualitäten – es ist unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen, wenn er über zehn Seiten lang beschreibt, wie Jessie sich ein Glas mit Wasser erkämpft, das auf einem Regalbrett über ihr steht.
Er lässt uns mit der gequälten, ans Bett gefesselten Seele aber nicht allein. Jessie verfällt in Selbstgespräche, die nach und nach ihr halbes Leben aufblättern, sodass aus diesem vordergründigen Horrorszenario ein veritables Frauenportrait wird. Das ist mal amüsant, mal dramatisch, meist aber so intensiv, dass ich als Leser mich dabei ertappe, wie ich meinen Umgang mit Kolleginnen und Freundinnen nach möglichem Fehlverhalten abtaste – Stephen King als Frauenversteher.
Und dann kommt der Akt der Befreiung – der durchaus so doppeldeutig verstanden werden kann, wie er klingt. Wie Jessie sich aus diesen engen Handschellen befreit, ist purer Splatter, schmerzhaft, wie eine schwere Geburt, blutig wie eine Schlacht gegen die Unterdrücker.
<Nachtrag 2017>Mike Flanagan verfilmte Kings Roman 2017 für den Streamingdienst Netflix.</Nachtrag 2017>
Nach dem Zwei-Mann-Stück Sie kam das Ein-Frau-Stück „Das Spiel“, woraufhin King in einer Pressekonferenz scherzhaft ankündigte, sein nächstes Buch würde „The Livingroom“ ('Das Wohnzimmer') heißen und ohne Personen auskommen. Tatsächlich erschien mit „Das Mädchen“ 1999 noch ein Ein-Mädchen-Stück.
Der Roman ist verknüpft mit „Dolores“; während der für beide Hauptfiguren schicksalhaften Sonnenfinsternis des 20. Juli 1963 (Jessie wurde soeben von ihrem Vater sexuell belästigt, Dolores tötete ihren Ehemann) verwischt die Realität und sie können sich gegenseitig sehen. Nach „Das Spiel“ war diese Passage lange rätselhaft; erst das Erscheinen von „Dolores“ brachte Klarheit.
Norris Ridgewick, der Sheriff, der den Untaten des Leichenfledderers Joubert nachgeht, war in „Stark – The Dark Half“ und „Needful Things“ noch Deputy.
Meine absoluten King-Favorites
Der Autor:
Stephen King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und wuchs zusammen mit seinem Bruder David bei seiner Mutter auf. Während seines Studiums lernte er seine zukünftige Frau kennen: Tabitha Spruce.
Nach der Heirat verdiente sich King den Lebensunterhalt für die Familie zunächst als Englischlehrer und besserte sein karges Gehalt mit Gelegenheitsjobs in einer Wäscherei oder in einer Sägemühle auf. 1973 gelang ihm mit seinem ersten Roman, Carrie, der Durchbruch.
Insgesamt hat King bisher über 40 Romane, mehr als 100 Kurzgeschichten, etliche Novellen und einige Drehbücher veröffentlicht. Hinzu kommen noch Gedichte, Essays, Kolumnen und Sachbücher. Zudem betreibt der Schriftsteller einen eigenen Verlag mit Namen Philtrum Press.
Die meisten auf deutsch übersetzten Kurzgeschichten sind gesammelt in „Nachtschicht“, „Im Morgengrauen“, „Der Gesang der Toten“, „Der Fornit“, „Albträume“ und „Im Kabinett des Todes“. Die Novellen finden sich in „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, „Langoliers“ und „Nachts“ wieder. Verschiedene wurden neu verlegt in der Sonderausgabe „The Secretary of Dreams“. („Die Sammlung People“, „Places“, and „Things“ blieb unveröffentlicht).