Buchcover: Passagier 23
Eher ein Film als ein Roman
So oder so: Sehr spannend
Titel Passagier 23
Autor Sebastian Fitzek, Deutschland 2015
Verlag Droemer/Knaur
Ausgabe E-Book, 432 Seiten
Genre Psychothriller
Website sebastianfitzek.de/buch/passagier-23/
Inhalt

Jedes Jahr verschwinden auf hoher See rund 20 Menschen spurlos von Kreuzfahrtschiffen. Noch nie kam jemand zurück. Bis jetzt ...

Martin Schwartz, Polizeipsychologe, hat vor fünf Jahren Frau und Sohn verloren. Es geschah während eines Urlaubs auf dem Kreuzfahrtschiff „Sultan of the Seas“ – niemand konnte ihm sagen, was genau geschah. Martin ist seither ein psychisches Wrack und betäubt sich mit Himmelfahrtskommandos als verdeckter Ermittler.

Mitten in einem Einsatz bekommt er den Anruf einer alten Dame, die sich als Thrillerautorin bezeichnet: Er müsse unbedingt an Bord der „Sultan“ kommen, es gebe Beweise dafür, was seiner Familie zugestoßen ist.

Nie wieder wollte Martin den Fuß auf ein Schiff setzen – und doch folgt er dem Hinweis und erfährt, dass ein vor Wochen auf der „Sultan“ verschwundenes Mädchen wieder aufgetaucht ist. Mit dem Teddy seines Sohnes im Arm …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Passagier 23Gehört über dieses Buch habe ich schon viel, es sei „sauspannend“, „furchtbar brutal“ und Fitzek sei der neue Lieblingsautor der Bahnhofsbuchhandlungen. Das Verdikt „furchtbar brutal“ hat mich abgeschreckt – ich bin kein so großer Freund von Brutalkrimis, wie etwa schwedische Autoren sie schreiben. Aber da sich in Fitzeks jüngerem Roman, Das Paket, explizite Brutalität sehr in Grenzen hält, war ich ein wenig entspannter. Das war ein Fehler. Das Buch hat mich ziemlich mittig erwischt.

„Sehr brutal“ trifft zu. Zumindest in diesem Buch mag es Fitzek deftig, nach 50 Seiten wurde schon ein Bein abgesägt, eine Aids-Party beschrieben, auf der ein 12-jähriger, mit Ketten gefesselter Junge von einem HIV-infizierten Pädophilen vergewaltigt werden soll, wurden munter unappetitliche Szenen aus einschlägigen Hardcore-Thrillern zitiert. Und als ich dann so viele Splatter-Bilder im Kopf habe, dass mein Schlaf unruhig zu werden droht, dreht Fitzek bei und, nunja, besänftigt den erschütterten Leser mit heutzutage schon eher, wie ich mit täglicher Zeitungsleküre leider konstatieren muss, alltäglichem Horror. Der ist nicht ganz so blutig, aber allemal traumatisierend genug – ich wollte mich ja eigentlich nur spannend unterhalten lassen, als ich den längst zum Bestsellerautor gewachsenen Sebastian Fitzek zur Hand nahm.

Das Buch hat Schwächen. So! Habe ich das gleich mal gesagt (bevor ich dann auch sagen muss, dass mich die Schwächen nicht so richtig stören, weil einfach der Plot so un-glaub-lich gut gebaut ist).

Fitzek ist kein Literat. Das ist zunächst einmal nicht schlimm. Er will ja unterhalten. Aber sein Medium ist das Wort, die kunstvolle Verknüpfung von Buchstaben zu einem fesselnden Text. Und besonders kunstvoll geht er eben nicht zu Werke. Manche Dialoge lesen sich wie Inhaltserläuterungen – was sie auch sind. Um nicht als besserwisserischer Autor in seine Geschichte einzugreifen, lässt er in eine jeweilige Situation passende Figuren vollkommen unsprechbare Erläuterungen reden: „»Ich könnte stundenlang so weitermachen. Es gibt ganze Websites, die sich mit dem Phänomen vermisster Passagiere beschäftigen: internationalcruisevictims.org, cruisejunkie.com oder cruisebruise.com, um nur die drei bekanntesten zu nennen. Und das sind keine Verschwörungsseiten von Spinnern, sondern seriöse Anlaufstellen für Angehörige und Cruise Victims, wie sich die Menschen nennen, die glauben, einem Verbrechen auf hoher See zum Opfer gefallen zu sein.« Julia entdeckte einen dünnen Schweißfilm auf Daniels Stirn. »Viele der Websites werden von Anwälten betreut. Kein Wunder. Die Kreuzfahrtindustrie boomt, ein Milliardengeschäft. Momentan schippern dreihundertsechzig Schiffe über die Ozeane, allein in diesem Jahr kommen dreizehn neue hinzu. Logisch, dass sich amerikanische Großkanzleien darauf spezialisiert haben, die Eigner auf Schadenersatz zu verklagen, dass die Schwarte kracht.“ Solche Texte unterstreichen mehr des Autors Eitelkeit, seine Recherche-Ergebnisse zu präsentierten – die er in den Danksagungen am Schluss des Buches dann als „alles gelogen“ relativiert – als des Autors Fähigkeit, Dialoge zu schreiben.

Martin gab Timmy einen Kuss auf die Stirn und verstrubbelte seine Haare.“ Das beschreibt keine erlebte Wirklichkeit, das beschreibt den Witwer Porter Riggs, wie er seinem Sohn Sandy oder seinem Sohn Bud in der TV-Serie „Flipper“ väterliche Zuneigung signalisiert; oder jeder andere Film-Vater aus dem TV-Serien-Fließband. Fitzek liebt offenbar das Kino – oder die Idee einer Verfilmung eigener Werke.

Fitzek weiß um diese Filmschwäche und hält sie gar nicht für eine Schwäche: Er will ja unterhalten und damit sein Geld verdienen und deshalb kopiert er nicht nur professionelle Erzählstrukturen, er zitiert sie dann auch gleich: „Sie schloss die Augen und schluchzte. Im Kinofilm wäre das der Moment gewesen, in dem sie sich an der Schulter des Unbekannten ausweint. Im realen Leben war es der Moment, in dem sie bei der geringsten Berührung wie eine Tollwütige um sich geschlagen hätte.“ Aber dieses geschilderte reale Leben ist natürlich in Wirklichkeit genau dieses Leben im Kinofilm. Fitzek unterstreicht das, wenn er seinem Lesetext gleich noch das lautmalerische mitgibt: „Tiago rannte die Strecke zurück, die er gekommen war. Das Flumm, flumm, flumm schwerer Schuhe auf dickem Teppich im Ohr.

Es gibt hier und da textliche Entgleisungen, in der der Autor seine Fabulierlust nicht halten konnte – „»Lassen wir den Quatsch«, sagte sein Neffe in einem Tonfall, mit dem sich Nichtfamilienmitglieder einen Besuch beim Kieferchirurgen eingehandelt hätten.“ Sowas sind eitle Spreizereien, die man besser überliest, um den Spaß am Buch insgesamt nicht zu trüben. Der springende Punkt ist: Fitzek überlässt nichts dem Zufall. Jeder Satz, den er in seinem Buch der Öffenbtlichkeit zu lesen gibt, ist bewusst gesetzt, gibt Hinweise, nichts ist einfach so aufgeschrieben. Erwähnt er in einem Nebensatz die offenen Schnürsenkel eines in abgerissenen Gothic-Klamotten auftretenden Mädchens, spielen diese Schnürsenkel bald eine tragende Rolle. Ein nebenbei in einem Kostenlos-Blättchen aus einem Ort im mittleren Westen der USA zitierten Großvater wird später eine wichtige Figur.

Das geht so weit, dass Fitzek zu Beginn der obligartorischen Danksagungen einen Cliffhanger setzt auf ein weiteres, zusätzliches Kapitel nach den Danksagungen, in dem noch offene Fragen – „Da war doch noch …“ – geklärt werden. Der Plot ist so komplex konstruiert, dass ich vor lauter Fassungslosigkeit ob solcher Chuzpe gar nicht dazu kommt, die künstliche Konstruktion zu kritisieren. Und wenn ich das anderntags dann doch tue, habe ich den Roman längst gelesen und meinen Spaß gehabt, oder meinen Thrill.

Und da ist es dann gar nicht mehr von Belang, ob das Buch literarisch von hohem Wert ist – das ist es wohl nicht. Aber es bringt mir das das Geschäft der Kreuzfahrtbranche näher (mit der ich noch keine Berührungspunkte hatte) und hat in seinem Eskapismus hohen Unterhaltungswert, bei dem ich auf jeder Seite das Gefühl habe, dass Sebastian Fitzek seinen zahlenden Leser, mich, ernst nimmt.

Dass er dafür bisweilen in sehr eklige Bilderwelten taucht, sieht ja vielleicht auch nur meine Empfindsamkeit so. Ich habe jedenfalls „Passagier 23“ nicht aus der Hand legen können und das Buch im Laufe eines Tages – des 2. November 2017 – gelesen.