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Plakatmotiv: Manchester by the Sea
Das Leben ist ein
langer, stiller Film
Titel Manchester by the Sea
(Manchester by the Sea)
Drehbuch Kenneth Lonergan
Regie Kenneth Lonergan, USA 2016
Darsteller
Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams, Kyle Chandler, Gretchen Mol, Matthew Broderick, Kara Hayward, Heather Burns, C. J. Wilson, Erica McDermott, Chaunty Spillane, Susan Pourfar, Missy Yager, Ruibo Qian, Anna Baryshnikov, Danae Nason, Ben O'Brien, Richard Donelly, Virginia Loring, Quincy Tyler Bernstine, Stephen Henderson, Ben Hanson, Mary Mallen, Robert Sella u.a.
Genre Drama
Filmlänge 137 Minuten
Deutschlandstart
19. Januar 2017
Inhalt

Lee Chandler ist ein sehr schweigsamer Mann, der ein einsames und zurückgezognes Leben führt. Er ist als Handwerker für einen Bostoner Wohnblock zuständig und geht seiner Arbeit sehr gewissenhaft nach. Durch einen Anruf erfährt er vom Tod seines Bruders Joe, der an seiner bekannten Herzschwäche gestorben ist. Nachdem er im Krankenhaus Abschied von ihm genommen hat, kehrt Lee in seinen Heimatort Manchester-by-the-Sea zurück, um sich um den Nachlass seines Bruders und dessen Sohn Patrick zu kümmern.

Ohne ihm dies vorher zu sagen, hat Joe ihn zum Vormund von Patrick bestimmt und dazu alle erforderlichen finanziellen Vorkehrungen getroffen. Patrick hat gleichzeitig zwei Freundinnen, spielt in einer Band und engagiert sich beim Schul-Eishockeyteam. Deshalb möchte er nicht, wie Lee dies zunächst plant, zu ihm nach Boston ziehen. Andererseits erträgt Lee es nicht, in Manchester zu sein. Er ist überfordert, denn er muss nun nicht nur Ersatzvater für einen Teenager sein, sondern trifft in Manchester auch auf bekannte Gesichter – darunter auch seine Ex-Frau Randi, mit der er früher zwar ein chaotisches aber sehr glückliches Leben führte, bis es zu einem tragischen Vorfall kam, der Lees Leben zerstört hat.

Alte Wunden reißen auf und holen tief vergrabenen Schmerz hervor. Lee muss herausfinden, wie er den Schmerz  überwinden und in eine glückliche und gesunde Zukunft starten kann …

Was zu sagen wäre
Wenn US-amerikanische Männer glücklich sind – also nicht kriegsversehrt, depressiv, traumatisiert, alkoholisiert – dann spielen sie Ball. Und sie angeln. Tätigkeiten, die zum Intimsten gehören, was Kinomänner gemeinsam machen, die sich ohne Worte verstehen. Auch Lee wirft am ende Bälle mit seinem Neffen Patrick. Und angeln tun sie auch. Es sind Szenen, in denen der Frost, der diese kleine Welt in Massachusetts 130 Minuten im Griff hatte, zurück geht. Immerhin ist auch der Boden warm genug, um endlich Lees Bruder Joe unter die Erde zu bringen.

„Manchester by the Sea“ ist ein Film, wie es ihn eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Keine Action. Keine großen Namen. Keine Special Effects. Und eine Hauptfigur, die sympathisch zu nennen, schwer fällt. Casey Affleck spielt diesen Lee großartig (Interstellar– 2014; „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ – 2007; Ocean's Eleven – 2001; Good Will Hunting – 1997; Chasing Amy – 1997; „To Die For“ – 1995). Wir lernen ihn kennen, da schippt er Schnee, repariert tropfende Wasserhähne, befreit verstopfte Toiletten, lebt in einer Soutterainwohnung, geht gezielt jeder Frau aus dem Weg und bricht in Kneipen Schlägereien vom Zaun. Dieser Mann ist längst tot. Wann immer jemand diesen Man um einen Rat bittet, sagt der, „das musst Du entscheiden“. In anderen Filmen wäre er ein Zombie. Hier ist er ein Mensch, dem man beim Fühlen und Denken zusehen kann. es ist ein Film der kleinen Gesten, der sich entsprechend zeit nimmt; auch Kenneth Lonergan mag sich nicht mehr an alte 100-Minuten-Standards für Filme halten. Im Vorspann gibt sich der Film als Amazon-Produktion zu erkennen und Amazon sich mit diesem Film als einigermaßen risikofreudig. Der Film hat auf den ersten Blick kein Hitpotenzial. Aber für Amazon hat sich das Risiko gelohnt: Die Produktionskosten lagen bei rund zehn Millionen Dollar. Weltweit eingespielt hat der Film 62,3 Millionen Dollar. Zudem hat er zwei seiner sechs Oscar-Nominierungen durchbekommen – Casey Affleck und das Script wurden ausgezeichnet.

Die aktuelle Entwicklung in Manchester by the Sea wird immer wieder unvermittelt durch Rückblenden unterbrochen. Es gab etwas in Lees Vergangenheit, aber eigentlich ahnen wir es von Anfang an, nachdem in den Rückblenden seine Frau und die drei Kinder eine Rolle spielen. Lee, der Hausmeister, der sich von jedem Mieter, dem er nur helfen will, teilnahmslos anschnauzen lässt, sucht Bestrafung. Die in seinen Augen gerechte Strafe für das, was damals vorgefallen ist, wurde ihm verwehrt. Und als er jetzt, nach Joes Tod, zurück in die Heimat kommt, sind alle so verdammt freundlich und offen zu ihm – anstatt ihn zur Hölle zu wünschen. Aber es war eben ein Unfall. Keine Straftat. Ein blöder, leichtsinniger Unfall.

Als Vormund für Patrick ist dieser Entscheidungsunfreudige Mann überfordert, und daraus macht er auch gar keinen Hehl. Er will nur schnell wieder weg. In seinen Souterrain. Patrick, sein Neffe, auf den er ein Auge haben soll, ist das komplette Gegenteil. Aufgeweckt, in der Schule beliebt, ein guter Sportler, gleich zwei Freundinnen (die natürlich nichts voneinander wissen dürfen) – dass am Anfang die Dunkelhaarige, zum Ende hin die blonde Freundin größeren Raum einnimmt unterstreicht visuell Patricks Hinwendung ins Leben.

Kenneth Lonergan, versierter Autor (Gangs of New York – 2002; „Die Abenteuer von Rocky und Bullwinkle“ – 2000; Reine Nervensache – 1999) und Gelegenheitsregisseur („Margaret“ – 2011; You Can Count on Me – 2000), lässt sich viel Zeit damit, seinen Figuren Spielraum zu geben. Er hat es nicht eilig. Das funktioniert, weil Casey Affleck das emotionale Gerüst des Films trägt und weil ihm Leute wie Michelle Monaghan, C.J. Wilson oder Kyle Chandler helfen, es zu tragen, und vor allem Lucas Hedges, der Patrick spielt – auch kein Energiebündel, aber ausgestattet mit ruhiger Kraft. In der richtigen Sekunde bekommt Lees Panzer einen ersten Riss. Das ändert die Welt am Ende nicht sonderlich im Vergleich zum Anfang – was den Film eher wie eines dieser britischen, hoffnungsbereiten Sozialdramen wirken lässt und eben nicht wie eines aus der US-Filmindustrie – aber Lee angelt wieder und wirft Bälle.

Mehr Hoffnung ist manchmal gar nicht nötig, wäre schnell Kitsch.

Wertung: 6 von 8 €uro
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