Buchcover: Unterleuten
Ein Dorf in Brandenburg als
Brennglas fürs Große Ganze
Titel Unterleuten
Autor Juli Zeh, Deutschland 2016
Verlag Luchterhand
Ausgabe Gebunden, 640 Seiten
Genre Drama
Website unterleuten.de
Inhalt

Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf Unterleuten in Brandenburg wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten. Als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden.

Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten.

Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
UnterleutenEin Fremder kommt in die Stadt und setzt das eingespieltze Netz der Bewohner in Bewegung. Jeder Western beginnt so. Juli Zehs Eastern beginnt auch so. In diesem Fall ist der Fremde ein Windkraftbetreiber, der die Bewohner des Dorfes mit dem beziehungsreichen Namen Unterleuten in Schwingung versetzt. Ich meine, förmlich zu spüren, wie sich Zeh irgendwann in einen Rausch geschrieben haben muss, wie ihn nur schreibende Künstler erleben, wenn sie sich ihrer Allmacht über das Geschehen bewusst werden. Zeh hat einen großen Gesellschaftsroman des frühen deutschen 21. Jahrhunderts geschrieben. Da ist alles drin. Und es ist nicht immer schön

Nicht immer schön ist nicht etwa der Text, der hinter klarer Sprache ohne eitle Schnörkel Universen vor seinem Leser ausbreitet. Nicht immer schön ist, dass der Leser sich zwangsläufig in der ein oder anderen Figur wiedererkennt. Gerhard etwa, ein „Exilant, geflohen vor dem Gespinst aus Belästigungen, zu dem das moderne Leben geworden war. Größenwahnsinnige Arbeitgeber, unfreundliche Verkäuferinnen, Dauerbaustellen auf Hauptverkehrsstraßen, stundenlange Parkplatzsuche, Kinderwagen in überfüllten U-Bahnen. Überall Werbung, die den Verstand beleidigte. Nachbarn, die am Samstagmorgen Regale an die Wände schraubten. Kinder, die in der Wohnung oben Fangen spielten. Leute, die nicht wussten, dass es zum Musikhören Kopfhörer gab.“ Ein Mitfünfziger, eine Leben-im-Elfenbeinturm-Figur, der, als er mit dem Leben konfrontiert wird – oder dem, was er in seinen Theorien dafür hält – fürchterlich scheitert. Erkenne ich mich nicht, erkenne ich Freunde wieder, Kolleginnen. Frederik etwa, Endzwanziger, der vieles will, nur bloß nicht erwachsen werden, einer, der immer denkt Mache ich morgen oder Aber morgen geht es echt los, dann aber nie etwas auf die Reihe kriegt und sich halt so durchwurstelt. Seine Freundin Linda vergleicht ihn mit einem Turnschuh – weich und durchgelatscht, aber sie findet ihn ganz okay, weil: Er steht ihr nicht im Weg.

Diese Linda nennen alle im Dorf die „Pferdefrau“, weil sie mit Frederik die Villa gekauft hat, die jedem Vorbesitzer Unglück gebracht hat, wo sie demnächst ihr Pferd Bergamotte als Zuchthengst unterstellen will, wofür sie aber noch ein wenig Land benötigt – und das Wohlwollen von Gerhard, dem Elfenbeinturm-Mann, der als amtlich installierter Vogelschützer im Dorf über Wohl und Wehe von Anbauten entscheiden darf. Linda hat einen genauen Plan, lebt nach den Grundsätzen eines dieser Du-kannst-es-schaffen-Ratgeber und ist zunächst erschreckend erfolgreich. Blond ist sie, jung ist sie, gutaussehend, mit einem klaren Plan und in ihrer stürmischen Einfalt nicht zu stoppen.

Auch solche Figuren kenne ich, Leute, die alles ihren eigenen Plänen unterordnen. Lindas Frederik passt da ins Raster: Der will nichts, will – buchstäblich – nur spielen, und er will Linda, die zuallererst eine Zukunft für ihr Pferd als Zuchthengst in Unterleuten haben will. Regelmäßig erkundigt sich Frederik in Internetforen, in denen sich Männer austauschen, die bei ihren Frauen nur die zweite Geige spielen, weil die erste Geige deren Pferd spielt – und die Männer, wie sie irgendwann feststellten, gar keine Geige. Linda und Frederik, Frederik und Linda wirken wie so viele born-in-the-90s-Paare, die ich kenne – fokussiert darauf, fokussiert zu sein, leben sie in einem ähnlichen Turm wie Gerhard, nur besteht dieser Turm nicht aus Elfenbein, sondern aus Strategien, aus Zielen – aber, nach Rilke, hinter lauter Strategien keine Welt.

Juli Zeh charakterisiert diese Großstadt-Flüchtlinge, deren Geschichten und Pläne zu Beginn die höheren Fallhöhen haben und also die erste Hälfte des Buches dominieren, zielscharf als dem Leben entfremdete Typen – dem Leben im Dorf nicht gewachsen. Ihr Alltag dreht sich um Aussteigerfantasien, Nachwuchs oder Pferde – nicht so um Windräder. „Er war nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane Wahnsinn die Provinz erreichte. Er verzichtete nicht auf Theater, Kino, Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle zu einer beliebigen strukturschwachen Region verquirlten.

Ich weiß seit meinem ersten Stephen-King-Roman, dass das Grauen der ganzen Welt in der Kleinstadt verkörpert lebt (in Wirklichkeit ist diese literarische Erkenntnis viel älter, aber ich habe sie halt bei King gelernt). Wo dann in Kings Castle Rock oder Bangor in Maine mal ein gruseliger Clown, mal ein tollwütiger Bernhardiner oder auch schon mal der Teufel persönlich ein Stelldichein geben, ist es bei Juli Zeh – ganz profan – die Moderne Zeit. In Unterleuten sind die Menschen „in der Lage, sich wegen eines angeblich vom Nachbarn angefahrenen Zaunpfahls in die Haare zu kriegen. Es konnte vorkommen, dass ein Siebzigjähriger einer Sechzigjährigen wegen einer kleinen Katze den Krückstock auf den Kopf schlug. Aber letztlich waren das Lappalien. Unter Leuten, die daran gewöhnt waren, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, ging es eben manchmal etwas rau zu. Natürlich gab es auch haufenweise Legenden, die dabei halfen, sich gegenseitig verdächtig zu finden.

Die geplanten Windräder, die ein effektiv auftretender Jungspund namens Pilz – nomen est omen – mit dem gleichgültigen Gemüt eines Computers ins Dorf drückt („Ohne Zweifel gehörte er zu jenen gehirngewaschenen Sklaven der Leistungsgesellschaft, die »Lösungen« sagten, wenn sie Möbel meinten, und zu einer internationalen Supermarktkette gingen, um dort Waren aus der Region zu kaufen. Kron wusste, dass der Junge versuchen würde, seine Zuhörer »abzuholen«, um »auf Augenhöhe« mit ihnen zu reden. Ein Typ wie Pilz war noch nicht mal Verkäufer, er war selbst ein Produkt.“), decken Antagonien jeder Art im Dorf auf: Alt gegen Jung. Stadt gegen Land. Ost gegen West. Unten gegen Oben. Wendegewinner gegen Wendeverlierer.

Die Dorfungmeinschaft besteht im Wesentichen aus drei Gruppen. Zwei davon bestehen aus den alteingesessenen Figuren. Zwei von denen sind sich seit Jugendbeinen spinnefeind und versammeln eher lose einen Teil der Dorfgemeinschaft hinter sich. Die dritte Partei sind Zugezogene aus der hippen Großstadt, die nicht verstehen, dass das Dorf kein Freilichtmuseum ist, sondern ein lebender Organismus mit Vergangenheit – und mit Menschen, die, und auf diesen Gedanken kämen die Städter niemals, auf sie herabschauen, weil sie über ein gemeinsames Problem nicht reden wollen bei einem Bier oder einem Kaffee, sondern Briefe oder gleich den Anwalt schicken „oder sie fingen an zu schreien und zu heulen und wunderten sich hinterher, wenn man ihnen nur mit äußerster Vorsicht begegnete.“ Zehs Beschreibungen der Welt und der Menschen darin sind wunderbare Kleinode, Seite für Seite.

Ihre Sprache ist journalistisch knapp und gleichzeitig brillant. Leben in die Bude bringt Zeh, indem sie dauern die Perspektive wechselt – anstatt einem olympisch betrachtenden Erzähler alle Fährnisse umständlich auseinanderfieseln zu lassen, lässt sie ihre Figuren selbst zu Wort kommen – jedes Kapitel eine andere; wer das jeweils ist, darüber klärt die jeweilige Kapitelüberschrift auf. Dieser Kniff bringt das Dorf zum Tanzen. Die wechselnden Perspektiven funktionieren als Schlüsselloch, bringen mich in jedes Wohnzimmer, lassen nicht zu, dass ich mich mit einem einzelnen Protagonisten verbrüdere und den anderen beim Verlieren zusehe. In „Unterleuten“ gibt es keine Gewinner.

Aber das ist nicht alles. Juli Zeh ist eine – jedenfalls, soweit ich das mit diesem Roman behaupten kann – begnadete Erzählerin mit Gespür für den Rhythmus ihrer Sprache: „Lorenz, der Lastwagenfahrer. Thomas, der Bäcker. Agatha, die Architektin, und ihr Mann Jens, der Bauarbeiter. Daniel, René, Timmy und Mark, die ebenfalls Bauarbeiter waren, und Steffen, dem die Baufirma gehörte. Christina, die Kindergärtnerin. Ihre dralle zehnjährige Tochter Nadine. Hugo, der Dachdecker, und sein Sohn Knut, ebenfalls Dachdecker. Lena, die kochte. Sigrid, die putzte. Gerhard, der Vogelschützer, den Kron lustig fand, weil er Gombrowski mit sinnlosen Naturschutzvorschriften auf die Nerven ging. Gerhards Frau Jule, die ihr Baby auf dem Schoß hielt. Tonio, der junge Anwalt, schwul und aus Sachsen. Für Wolfgang, Heinz, Norbert, Jakob, Ulrich und Björn, alle über 70 und LPG-Veteranen wie Kron, hob er zum Gruß die Hand. Oma Rüdiger, mit dem halben Dorf verwandt, und Opa Margot, mit dem sie in wilder Ehe lebte, händchenhaltend in der ersten Reihe.“ Wäre Juli Zeh Solistin im Orchestergraben, ich gäbe ihr während des Konzerts mehrfach Szenenapplaus. „Unterleuten“ ist wortgewaltiges, fulminantes, unverschämtes, brillantes, erschreckendes Bild menschlicher Schwächen und Abgründe.

Ich habe „Unterleuten“ zwischen dem 31. März und 26. April 2017 gelesen.