Buchcover: Unschuld
Komplexe Portraits von echten
Menschen voller Komplexen
Titel Unschuld
(Purity)
Autor Jonathan Franzen, USA 2015
aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeldt
Verlag Rowohlt
Ausgabe Gebunden, 832 Seiten
Genre Drama
Website rowohlt.de/jonathan-franzen.html
Inhalt

Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter.

Als ihr eines Tages eine Deutsche beim „Sunlight Project“ des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann. Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf …

 

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
UnschuldEs ist natürlich bei Jonathan Franzen nicht einfach die Geschichte eines jungen Mädchens nach ihren Wurzeln, die sie im bolivianischen Dschungel zu finden hofft. Das Mädchen heißt „Purity“ (Unschuld) und ist für den Autor der Aufhänger für einen weiteren seiner großen Universen namens American Family. Purity, die alle – und vor allem sie selbst, weil ihr ihr richtiger Name peinlich ist, Pip nennen, verschwindet zwischenzeitlich für hunderte Seiten aus dem Roman.

Franzen entfaltet einen Reigen ausführlicher Charakterstudien, leistet sich ironische Seitenhiebe auf den real existierenden Literaturbetrieb („So viele Jonathans. Eine wahre Plage von Literatur-Jonathans. Liest man nur die New York Times Book Review, möchte man meinen, Jonathan sei der häufigste Männername in Amerika. Gleichbedeutend mit Talent, Größe. Ehrgeiz, Vitalität.“) und schwenkt im letzten Fünftel seines dicken Buches noch schnell auf die Seitenstraße eines Thesenromans wider die Auswüchse des world wide web („Ersetzte man Sozialismus durch Netzwerke, hatte man das Internet. Dessen miteinander konkurrierende Plattformen einte der Ehrgeiz, jeden Aspekt deiner Existenz zu definieren.“). Neben Purity, die ihren Vaterkomplex auf potenzielle Liebhaber projiziert und noch jedes Mal am Moralkodex ihrer geliebt-verhassten Mutter scheitert, der ihr überall hin in die Welt folgt, rollt Franzen das Leben des ostdeutschen SED-Funktionärssohnes Andreas Wolf aus, der in der DDR ein bisschen gegen das System stichelt, durch den Schutz der väterlichen Hand, die er genauso ablehnt wie die Sorgen seiner übergriffigen Mutter, aber nur marginal gepiesackt wird, und der ohnehin lieber junge Mädchen vögelt, die in großer Zahl auf seine Herrscherklassenherkunft stehen, bis er einen Mord aus leidenschaftlicher Eitelkeit begeht und im Dschungel Boliviens als Datenleaker und erste Adresse für Whistleblower zu Weltruhm und neuen jungen Frauen kommt.

Das Buch springt zu Tom, dem engagierten Journalisten und Pips Mentor („Ich lebte in dem Glauben, meine Reporter würden die hermetische Campusblase der Siebziger-Jahre-Genusssucht platzen lassen, aber den Leuten, die sie mit ihren Interviews bedrängten, kamen sie vermutlich eher wie Kinder vor, denen man überteuerte Schokoriegel abkaufen musste, damit sie ins Sommerlager fahren konnten.“), der seine Pubertät in den 1970er Jahren erlebte, dabei früh lernte, „dass ich noch unentrinnbarer im Patriarchat gefangen war, als ich gedacht hatte. Meine Beweggründe bei jeder intimen Beziehung mit einer Frau, so das Fazit, waren a priori suspekt“.,Paul entbrennt in eine unglücksselige Liebe zu der schönen Anabel, die sehr eigene Vorstellungen von Miteinanderleben und -lieben hat und Tom mit rigiden Verhaltensvorschriften einengt, die er aus Liebe erduldet, sich sein Recht aber, stehend ins Klo zu pinkeln, was Anabel hören könnte, dadurch erkämpft, dass er stattdessen ins gemeinsame Waschbecken pinkelt. In diesen kaputten und doch so normalen menschlichen Zwischenwelten erscheint ausgerechnet Anabels Vater, ein milliardenschwerer Geschäftsmann, als der einzig einigermaßen normale Mensch („Geben Sie meiner Tochter eine Minute, bis sie Ihre billigste Flasche gefunden hat. Tom und ich hätten inzwischen gern schon mal den ’45er Margaux.“).

Unter der nach vielen Jahren in die Brüche gegangenen Liebe zwischen Tom und Anabel hat auch Leila zu leiden, seine aktuelle Freundin – deren Ehe mit dem depressiven, bald querschnittsgelähmten Autor Chatrles Franzen ebenso seziert wie die Anabels („Bei allen unseren Streitigkeiten ging es um nichts. So, als könnten wir null Inhalt mit unendlichem Reden multiplizieren, damit er nicht mehr null betrug. Um wieder miteinander schlafen zu können, hatten wir uns trennen, und um ungestümen, triebhaften Sex zu haben, scheiden lassen müssen. Es war ein Mittel, gegen das gigantische Nichts zu wüten, vor dem das Streiten uns nie gerettet hatte. Es war der einzige Streit, den jeder von uns mit Würde verlieren konnte. Aber dann war es vorbei, und übrig blieb wieder nichts.“).

Im letzten Fünftel versucht Franzen sich in der Kunst des Thesenromans. Der gern als Internetzweifler apostrophierte Autor lässt den in der sozialistischen Diktatur groß gewordenen Andreas im Dschungel von Bolivien über die Vergleichbarkeit totalitärer Regime und den Zwängen der offenen Internetwelt räsonieren: „Doch kluge Menschen fürchteten das neue Regime in Wahrheit weit mehr als das, was fürchten zu müssen es den weniger klugen Menschen eingebläut hatte, nämlich die NSA, den CIA – die eigenen Terrormethoden zu verschleiern, indem man sie dem Feind zuschrieb und sich als einzig wirkungsvolle Verteidigung dagegen präsentierte, war ein Verfahren, wie es im totalitären Lehrbuch stand –, und folglich hielten die meisten potenziellen Snowdens den Mund.“ Das ist eine interessante These, die Franzen mit Andreas‘ Worten da ausformuliert, bringt den Roman als solchen aber nicht weiter. Um die millardenschwerden Plattformbetreiber und Datenkraken im World Wide Web nachvollziehbar mit den mörderischen Grausamkeiten faschistischer Regime gleichzusetzen, wie das sehr sophisticated Dave Eggers vor einigen Jahren mit seinem Circle getan hat, bedarf es offenbar mehr, als den länglichen inneren Monolog eines Aktivisten, der nun wie ein abgebrochener Ast quer zur eigentlichen Story klemmt.

Dieser Roman, dessen Geschichte immer wieder ins Stocken gerät, ist ein Panoptikum an Geschichten, ein komplexer Kosmos, in dem Franzen bisweilen weitschweifig abdriftet, ausführlich etwa führt er Leila, Toms neue Freundin ein, die in einem kompliziert durchgestochenen Militärskandal recherchiert, der weiter keine Rolle spielt und die dann sang und klanglos auch keine Rolle mehr spielt. Über sechs Jahrzehnte spannt sich der Erzählbogen, stöbert in mehreren Familienmodellen – Franzens immer währende Grundierung – und folgt der Suche seiner Titelheldin nach deren eigener Familie, die mit einem eigenartigen Tusch endet. Hat Franzen in Die Korrekturen, oder zuletzt in Freiheit, Familien zerbrechen, oder nur halbwegs funktional weiterleben lassen, geht er hier den umgekehrten Weg – am Anfang hat die Heldin keine Familie, am Ende hat sie irgendwie ein. Irgendwie jedenfall.

Zwischen all dem steht des Autors Können, Menschen zu beschreiben und Erkenntnisse zu lancieren: „Nur um die Zwei-Stunden-Version dieses Gesprächs zu vermeiden – in der Teilnehmer A zu beweisen versucht, dass Teilnehmer B jene fatale Bemerkung gemacht hat, die das Gespräch überhaupt erst in die Länge zieht, worauf Teilnehmer B Teilnehmer As Version in Frage stellt, was wiederum, da es ja keine direkte Mitschrift gibt, Teilnehmer A dazu veranlasst, die Gesprächseröffnung aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, und Teilnehmer B eine in entscheidenden Punkten davon abweichende Rekonstruktion dagegensetzen lässt, sodass eine zeitraubende gemeinsame Anstrengung nötig wird, die beiden Rekonstruktionen miteinander abzugleichen und in Einklang zu bringen –, erklärte ich mich einverstanden, nach New Jersey zu fahren und eine Wanderung mit ihr zu machen.

Ich habe das Buch nicht in einem durch gelesen. Irgendwann war ich voll mit Figuren und Geschichtchen und komischen Episoden. Aber es schält sich über hunderte von Seiten nicht heraus, worum es denn gehen soll, warum Puritys Suche nach ihrem Vater von soviel Beiwerk umkränzt wird. Es fehlt die Spannung einer dramaturgisch dichten Handlung. Dass ich die Lektüre zwischenzeitlich über Monate unberührt liegen ließ, bis sie mir an einem launigen Sonnentag im Frühling eher zufällig – „eigentlich könnte ich mal gucken, wie‘s weiter geht“ – wieder in die Hand rutschte, wo ich sie dann gefesselt zu Ende brachte, zeigt mir, dass mich der Rote Faden nicht, die Ménagerie der Personen umso stärker gepackt hat.

Ich habe „Purity“ (inkl. erwähnter Pausen) vom 20. September 2016 bis zum 30. März 2017 gelesen.