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Plakatmotiv: Gangs of New York (2002)

Ein ambitioniertes Lebenswerk,
das an seinen Ambitionen scheitert

Titel Gangs of New York
(Gangs of New York)
Drehbuch Jay Cocks & Steven Zaillian & Kenneth Lonergan
nach der gleichnamigen kriminalhistorischen Romanvorlage von Herbert Asbury
Regie Martin Scorsese, USA 2002
Darsteller

Leonardo DiCaprio, Daniel Day-Lewis, Cameron Diaz, Jim Broadbent, John C. Reilly, Henry Thomas, Liam Neeson, Brendan Gleeson, Gary Lewis, Stephen Graham, Eddie Marsan, Alec McCowen, David Hemmings, Larry Gilliard jr., Cara Seymour, Roger Ashton-Griffiths, Peter Hugo Daly u.a.

Genre Drama, Crime, Historie
Filmlänge 167 Minuten
Deutschlandstart
20. Februar 2003
Inhalt

Die sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Lower Manhattan. Die USA stehen vor dem Bürgerkrieg, die Gesellschaft droht auseinander zu brechen. Für die armen Bewohner von New York tobte der Kampf allerdings schon lange – und zwar direkt vor ihrer Haustür – in Five Points, eine der ärmsten Gegenden der USA.

Rivalisierende Gangs kämpfen um die Vorherrschaft auf den Straßen. Dieses Gebiet absoluter Armut zwischen dem New Yorker Hafen, dem wohlhabenden Geschäftsviertel der Wall Street und dem unteren Teil des Broadway, wo sich auch das berühmte American Museum von P. T. Barnum befindet, wird zum Anziehungspunkt für die Unterwelt.

Amsterdam Vallon ist ein junger irisch-amerikanischer Einwanderer, der nach 16 Jahren in einer Erziehungsanstalt in den Five-Points-Distrikt zurückkehrt, um sich an William Cutting zu rächen, besser bekannt als "Bill The Butcher" – und Mörder von Amsterdams Vater. Um sich rächen zu können, muss er im engsten Kreis von Bills Gang Aufnahme finden. Noch schwieriger wird die Situation für ihn, als er Jenny Everdeane begegnet. Die hart erkämpfte Unabhängigkeit und die verführerischen Schönheit der geheimnisvollen Taschendiebin faszinieren Amsterdam. Doch auch Jenny hat eine Vergangenheit, durch die seine Pläne noch komplizierter werden.

Mitten in den Unruhen von 1863, die sich an der Mobilmachungspolitik der Regierung für den Bürgerkrieg entzünden, erreicht auch die explosive Situation in Five Points ihren Höhepunkt. Die Straßenkämpfe und Aufstände jenes Jahres werden zur Zerreißprobe für die jungen USA …

Was zu sagen wäre

In den Jahren, in denen John Wayne unter John Fords Regie den blauen Rock der Konföderierten trug, in den Jahren, als James Stewart versuchte, den Wilden Westen zu zivilisieren, spielt diese Geschichte aus der großen Stadt im Osten des Landes, in der alles begann – die Besiedlung der Vereinigten Staaten von Amerika, die so viel Leid und Tod über den Kontinent brachte. Täglich landeten tausende Menschen aus dem von Armut und Hunger befallenen Irland im Hafen der Stadt. Die mangelnde Versorgung sorgt für neuen Hunger, für neue Schlachten in den Straßen, Banden bilden sich, die sich abseits einer herrschenden Ordnung einen Krieg um die paar Krumen liefern, die vom Tisch der Reichen fallen. Es herrscht das Gesetz des Geldadels, kontrolliert von korrupten Polizisten, die auf allen Seiten die Hand aufhalten. Das konnten die Verwöhnten oben an der Fifth Avenue gut, „die eine Hälfte der Armen kaufen, um die andere Hälfte der Armen zu beherrschen“. Bis zu dem Tag, an dem diese Art der Politik nicht mehr funktioniert, an dem sich die Armen verbünden, zur Revolte erheben und in ihrem Niedergang die Geburt einer Nation besiegeln.

Martin Scorsese (Bringing Out the Dead – 1999; Casino – 1995; Zeit der Unschuld – 1993; Kap der Angst – 1991; GoodFellas – 1990; "Die letzte Versuchung Christi" – 1988; Die Farbe des Geldes – 1986; New York, New York – 1977; Taxi Driver – 1976; Hexenkessel – 1973) erzählt eine mehr oder weniger wahre Geschichte über die Geburt der USA. Die Bandenkriege in New York hat es gegeben. Das große Feuer im Finale hat es gegeben. Inwieweit aber es die Personen gegeben hat, ist unklar, aber auch nicht so wichtig.

Als Rahmen für seinen faszinierenden Bilderbogen erzählt Scorsese eine Rachegeschichte. Ein junger Mann kehrt zurück in sein von Gangs beherrschtes Viertel, um den Tod seines Vaters zu rächen, der hier vor seinen Augen vor 16 Jahren vom obersten Bandenboss getötet wurde. Er verliebt sich in eine Taschendiebin, die in unheilvoller Verbindung zu dem Bandenboss steht. Der Bandenboss nimmt den jungen Mann unter seine Fittiche, bis er dessen wahre Identität erkennt.

Das ist nicht gerade Shakespeare. Die Rachegeschichte ist nach Schema F erzählt, vorgemacht in zahlreichen TV-Krimis, in zahlreichen Western. Wichtiger sind Scorsese seine Bilder. Das Set-Design, das einen hübschen Kontrast herstellt zu seinen verschwenderischen Bühnen in Zeit der Unschuld (1993), ist Überlebenswillen in pointiertem Elend. Michael Ballhaus' Kamera gestaltet wunderschöne Werke auf der Leinwand. Und im großen Erzählbogen macht der Film deutlich, wie sich entwickelt, was wir heute die Zivilgesellschaft nennen. Während in New York die Banden brodeln, tobt der Sezessionskrieg der wohlhabenden Nordstaatler gegen die Südstaatler. Scorsese macht klar, dass diese Nordstaatler nicht etwa selbst für die Rechte der Farbigen, der Sklaven, in den Krieg zogen; sie zwingen von den Schiffen weg die irischen Flüchtlinge und die Armen aus den Slums, diese Schlacht für sie zu schlagen. Und als die sich schließlich dagegen auflehnen, schlägt die Zivilgesellschaft mit erbarmungsloser Härte zu. Am Ende brennt New York. Eine Gesellschaft entsteht, in der Recht und Ordnung eine gewisse Rolle spielen. Aber die Armut und die daraus resultierende Kriminalität ist nicht tot.

Der Film ist also weit mehr, als ein Rache-Movie. Scorsese interpretiert seine eigene Birth of a Nation. Einmal sitzt der Obergangster Bill, genannt Der Metzger, eingehüllt in der amerikanische Flagge und sinniert: „Ich bin 47 Jahre alt. Weißt Du, wie ich's geschafft habe, so lang zu leben all die Jahre? Mit Furcht. Indem ich ein Feuerwerk der Furcht abbrenne. Wenn mich jemand bestiehlt, dann schneide ich seine Hände ab. Wenn er mich beleidigt, kommt die Zunge dran. Rebelliert einer gegen mich, schlage ich ihm eigenhändig den Kopf ab und pflanze ihn auf einem hohen Pfahl auf, wo ihn jeder sehen kann. Sie hilft mir, die Ordnung aufrechtzuerhalten; die Furcht!“ Das ist der American way of life. Butch, der Metzger, hat viele Leben auf dem Gewissen, aber er leidet nur unter einem Toten: dem Priester, den er vor 16 Jahren tötete, den letzten Ehrenmann. Daniel Day-Lewis (Der Boxer – 1997; "Im Namen des Vaters" – 1993; Zeit der Unschuld – 1993; Der letzte Mohikaner – 1992; Mein linker Fuß – 1989) spielt den Metzger, eingehüllt in die US-Flagge, als einen furchteinflößenden Mann von Ehre in seinem Revier, der Rest sind Strolche und Mörder. Übersetzt: Die USA haben mit harter Hand regiert, die Sowjetunion bezwungen, die Bipolarität ist tot, das „Ende der Geschichte“ wird von Historikern behauptet, aber jetzt leiden die USA unter der Unübersichtlichkeit der internationalen Verhältnisse. Scorsese sieht sein Land ohne den klaren Feind von außen, den russischen, in Chaos.

Ursprünglich hatte Scorsese einen Film abgeliefert, der über vier Stunden lang war – immerhin hatte er 30 Jahre auf dieses spezielle Projekt hingearbeitet. Produzent Harvey Weinstein, Boss von Miramax, der sich schlagzeilenträchtige Kämpfe mit Scorsese geliefert hatte, ließ den Film radikal kürzen. Das spürt der Zuschauer in für Scorsese und seine Haus-und-Hof-Cutterin Thelma Schoonmaker auffallend unästhetisch gesetzten Bildblenden. Sie fallen auf, weil Scorsese dieses Stilmittel sonst ungerne einsetzt, außer an den Stellen, in denen offenbar Weinstein zu Kürzungen zwang.

Das sehenswerte Projekt zuckelt im mittleren Teil so vor sich hin, als gäbe es gerade nichts zu erzählen – zum Beispiel scheint die Entstehung der Beziehung zwischen Amsterdam und Jenny (Leonardo DiCaprio und Cameron Diaz) ursprünglich ausführlicher gewesen zu sein. Im vorliegenden Film geht es mit ein paar Reibereien ab, die das Standard-Repertoire jeder romantischen Komödie darstellen – bei einem Scorsese eher unwahrscheinlich. Auch Jennys Beziehung zu Bill "The Butcher" (Daniel Day Lewis – Der Boxer, 1997) muss im Schneideraum geblieben sein. In dieser Fassung wirkt der Film, als sei er kastriert worden – alle Spannungsbögen sind erschlafft.

Für den Nicht-New-Yorker wäre es auch schön gewesen, die Five Points geografisch genauer darzustellen. Vor dem Titelvorspann gibt es zwar einen hübschen Kameraflug, der die Verortung versucht. Das geht aber so schnell, dass man nach den Wolken nicht weiß, wo man vor den Wolken war – nur offenbar irgendwo im Süden von Manhattan.

Am Ende entsteht New York im Zeitraffer und der Zuschauer darf vermuten, dass er sich die vergangenen zweieinhalb Stunden im späteren Brooklyn aufgehalten hat. Aber während der restlichen Zeit sehen wir nur Dreck und Staub und Blut und Gewalt und DiCaprio (The Beach – 2000; Celebrity – Schön, reich, berühmt – 1998; Titanic – 1997; William Shakespeares Romeo & Julia – 1996; Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa – 1993) und Day-Lewis und Diaz und die anderen von der Gang.

Als Medium des Bildes ist der Film wunderbar: In jeder Einstellung gibt es mehr zu sehen, als bei einmaligem Kinobesuch zu erfassen ist – vielleicht liefert ja irgendwer irgendwann den Director's Cut. Martin Scorsese ist ja schließlich nicht irgendwer. Es wird genügend Leute geben, die sich Scorseses "Gangs of New York" gerne auch in einer viereinhalb Stunden Fassung ansehen.

Wertung: 3 von 6 €uro
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