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Kinoplakat: Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent
Gegensätze ziehen sich an. Truffaut
inszeniert eine statische Romanze
Titel Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent
(Les Deux Anglaises et le Continent)
Drehbuch François Truffaut + Jean Gruault
nach einem Roman von Henri-Pierre Roché
Regie François Truffaut, Frankreich 1971
Darsteller

Jean-Pierre Léaud, Kika Markham, Stacey Tendeter, Sylvia Marriott, Marie Mansart, Philippe Léotard, Irène Tunc, Mark Peterson, Georges Delerue, Marie Iracane, Marcel Berbert, Jeanne Lobre, David Markham u.a.

Genre Romanze, Drama
Filmlänge 130 Minuten
Deutschlandstart
18. November 1971
Inhalt
Um die Wende zum 20. Jahrhundert lernt der junge Franzose Claude Roc, ein Dandy und Kunst- und Frauensammler, in Paris die Engländerin Anne kennen. Anne lädt Claude ein, sie und ihre Familie in Wales zu besuchen. Bei seinem Aufenthalt in Wales verliebt sich Claude in Annes Schwester Muriel, die seine Zuneigung erwidert.

Die beiden puritanischen Schwestern sind fasziniert von dem ungezwungenen jungen Mann, den sie „Kontinent“ nennen. Doch die erhoffte Heirat von Muriel und Claude findet nicht statt: Beider Mütter sind von der Idee einer überstürzten Heirat wenig begeistert, weshalb der Entschluss getroffen wird, dass Claude und Muriel für ein Jahr keinen Kontakt zu einander haben sollen. Todunglücklich kehrt Claude nach Paris zurück und will durchhalten, aber sein freizügiges Leben gewinnt die Oberhand.

In der Zwischenzeit emanzipiert sich Ann und reist nach Paris, um Bildhauerin zu werden. Sie besucht Claude und wird seine Geliebte, ist sich aber zugleich bewusst, das Vertrauen Muriels, die Claude liebt, zu missbrauchen. Ann wird mit der Zeit Claudes Pendant in der Pariser Kunstszene. Sie nimmt sich sogar einen anderen Liebhaber, Diurka, was Claude trotz seiner liberalen Ansichten nur schlecht akzeptieren kann.

Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als Muriel vom Verhältnis Anns und Claudes erfährt …

Was zu sagen wäre

Ein bemerkenswerter Film, stellt man die bisherigen Regiearbeiten François Truffauts als Vergleich daneben. Der Franzosen mit dem Hang zu dramatischen Romanzen und klarer Bildsprache versucht sich hier in der Form eines Thesenfilms („Drei sind einer zu viel“), der nicht den Regeln klassischer Filmdramaturgie folgt – das Bild erzählt die Geschichte, die Tonspur, also Dialoge, Off-Texte, Geräusche und Musik, wirken unterstützend – sondern wie bebildertes Radio wirkt; ein Horspiel mit begten Bildern.

Selbst Dialoge werden abgeblendet und statt dessen aus dem Off in indirekter Rede zitiert. Immer wieder beschreibt der Off-Sprecher die Gefühlswallungen und inneren Konflikte der Protagonisten und erklärt sittliche Besonderheiten der Jahrtausendwende. Die Schauspieler stehen statisch mit starrem Blick im Raum, wirken somnambul, lyrisch verklärt, aber nicht lebendig – wie in einer Moritat; romantisch gemeinte Wangenstreichler erinnern an unbeholfenes Tatschen kleiner Kinder, nicht an große Romantik: „Warum berühren Sie mich?“ „Weil Sie etwas Irdisches sind.“

Der Film spielt mit den Klischees britisch-französischer Verschiedenheiten. Den sittsamen Gesellschaftsnormen der Briten stellt das Buch nach einer Vorlage von Jule-&-Jim-Autor Henri-Pierre Roché eine französische Gesellschaft gegenüber, in der jeder einmal versuche, sich aselbst zu töten. Die beiden britischen Damen Ann unbd Muriel „waren überrascht, dass Selbstmord in Frankreich kein Delikt war. Claude versicherte ihnen, dass sonst auch alle Franzosen im Gefängnis wären“.

Truffaut inszeniert diese Fremdheit durch steife Dinner, schweigsame Teatime und britischen Liebesanbahnungen über Bande, während auf der anderen Seite des Kanals die franzosen in Kunst, Literatur und schwelgerischer Lebenslust baden. Während Paris leidenschaftlich über die Bildhauerei Rodins debattiert, beschränkt sich Kunst auf britischer Sete auf eine Radierung, die im Treppenaufgang zu Claudes Kemenate hängt und die Züge eines strengen, weiblichen Gesichts zeigt.

Die Erzählung aus dem Off gibt dem Film etwas Novellenhaftes. Die strenge Oberflächichkeit der Erzählung, bebildert mit vielen rauschaften Totalen, deren Landschaften mit Pferdekutschen oder fröhlich lachenden Tennisspielerinnen an impressionistische Gemälde erinnern, weniger an traditionelles Kino, geben dem Film eine melancholische Grundierung, wozu auch die auffallende Abwesenheit von Musik beiträgt. Bei der ersten Liebesnacht mit Ann auf einer wild verwucherten Insel in einem Schweizer See toben auf der Tonspur Frösche in einer Zahl, wie sie im ganzen Land kaum aufzutreiben wären. Nach dem Sex konstatiert sie lapidar: „Es musste sein!“ Dem Regisseur so federleichter Romantik-Dramen wie Geraubte Küsse (1968) oder Tisch und Bett (1970) ist ein bemerkenswert trauriger Film gelungen.

Dass Claude seine Liebeswirren schließlich in einem Buch veröffentlicht, das den Titel „Jérôme et Julien“ trägt, mag dem Autor der Romanvorlage als Reminiszenz auf seinen Klassiker „Jules et Jim“ geschuldet sein, den ebenfalls Truffaut verfilmt hat und der eine ähnliche Liebesbeziehung dekliniert. 130 Minuten nimmt sich Truffaut, der bisher selten mehr als 100 Minuten für seine Filme brauchte, diesmal dafür Zeit; ich frage mich, warum. Am Ende gerät der Film zunehmend zur Bebilderung eines bizarren Altherrentraums, in dem Jungfrauenblut das Bettlaken, „den Goldenen Schild“ des charmanten Chauvinisten benetzt und Muiriel ihren Claude nach einer Liebesnacht mit der Erklärung verlässt, es könne „keine Steigerung geben“.

Eine Szene später betrachtet Claude sein Spielgebild und stellt fest: „Ich sehe heute alt aus!“

 

Wertung: 3 von 8 D-Mark
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