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Plakatmotiv: Eyes Wide Shut (1999)

Erotische Fantasien eines
alt gewordenen Meisters

Titel Eyes Wide Shut
(Eyes Wide Shut)
Drehbuch Stanley Kubrick + Frederic Raphael
inspiriert durch die "Traumnovelle" von Arthur Schnitzler
Regie Stanley Kubrick, UK, USA 1999
Darsteller

Tom Cruise, Nicole Kidman, Sydney Pollack, Marie Richardson, Rade Serbedzija, Todd Field, Vinessa Shaw, Sky du Mont, Fay Masterson, Leelee Sobieski, Thomas Gibson, Madison Eginton, Jackie Sawiris, Leslie Lowe, Peter Benson u.a.

Genre Drama
Filmlänge 159 Minuten
Deutschlandstart
9. September 1999
Inhalt

Der New Yorker Arzt Bill Harford und seine Frau Alice besuchen die Weihnachtsparty des gemeinsamen Freundes Victor Ziegler, auf der beide mit anderen Partygästen flirten.

Alice gesteht Bill später, dass sie ihn in ihren Gedanken mit einem Marineoffizier, den sie im letzten Sommerurlaub flüchtig kennengelernt hatte, betrogen habe. Außerdem erklärt sie ihm, dass sie wegen dieses Mannes bereit gewesen wäre, Mann und Tochter zu verlassen. Verstört flieht William in die Nacht hinaus, wo er durch verschiedene Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht in Versuchung gebracht wird.

Plakatmotiv (US): Eyes Wide Shut (1999)Aber so verlockend die zunehmend traumartigen Episoden auch sein mögen, William gibt seinem Verlangen nicht nach …

Was zu sagen wäre

Auf dem Kinoplakat küsst Tom Cruise als Bill seine Ehefrau Nicole Kidman als Alice. Er leidenschaftlich, sie nicht bei der Sache; ihr Blick schweift ab. Schon das Plakat macht klar: Diese Beziehung steht vor Herausforderungen. Jedenfalls, wenn ihre Teilhaber wahrhaftig sind, ihre Masken fallen lassen. "Eyes Wide Shut" ist ein Film der Masken. Erst allegorische Masken, später implizit echte Masken mit echten dramatischen Schicksalen dahinter. Eyes Wide Shut („die Augen weit geschlossen“) ist der letzte vollendete Film des US-amerikanischen Filmregisseurs Stanley Kubrick, der nur wenige Tage nach Fertigstellung des Filmschnitts im März 1999 starb.

Nein, es ist kein Sex-Film mit Tom und Nicole. Neben Kubricks plötzlichem Tod sorgten extreme Geheimniskrämerei seit Beginn der Dreharbeiten vor über drei Jahren und ein gewagter Teaser-Trailer mit Cruise und Kidman für die ganz große Neugier. Kidman und Cruise waren bereits seit fünf Jahren verheiratet, als die Dreharbeiten im November 1996 begannen. Der Film ist, um das gleich vorweg zu sagen, nicht der angehaucht-pornographische Overkill zweier Hollywood-Superstars, die zwar in ungewohnt offener Nacktheit tatsächlich so tun, als spielten sie (irgend)ein arriviertes Ehepaar aus New Yorks Upper East Side. Letztenendes ist es unser Manko im Kinosessel, wenn wir uns dauernd fragen, ob die beiden auch Zuhause so reden? Gleichzeitig aber lenkt das Glamourpaar Cruise–Kidman vom Filmgeschehen ab und das wird zuallererst nicht im Interesse Kubricks gelegen haben, daher bleibt der aus Marketing-Gesichtspunkten brillante Besetzungscoup ein Rätsel: Warum hat der Perfektionist Kubrick das mitgemacht?

Das Drama beginnt, nachdem Alice die Maske der braven, treuen Gattin fallen gelassen hat und von einem erotischen Traum berichtet, für den sie beinahe Mann und Tochter verlassen hätte. Das erschüttert den braven Ehemann sichtlich, der sich – anders als in Artur Schnitzers Vorlage "Die Traumnovelle" – nie zu imaginären Seitensprüngen hat hinreißen lassen. Nach neun Jahren ist seine Ehe an einem toten Punkt angelangt. Auf einer üppigen Party, auf der beide zu Beginn des Films niemanden kennen, lassen sich beide ein bisschen in die Arme von Fremden gleiten – Bill flirtet heftig mit zwei Models, Alice lässt sich nach „zwei Gläsern zu viel Champagner“ von einem öligen Ungarn über die Tanzfläche führen - der Deutsche Sky Dumont darf hier mit La Kidman tanzen und flirten. Aber diese Avancen bleiben geübte Spielerei zweier Pragmatiker.

Am Abend nach der Party also Alice' Geständnis ihres ersehnten Ehebruch'. Das tut sie unter Einfluss von Marihuana. Aber Drogen ist eine schlechte Erklärung für die zickig überhebliche Szene, die sie ihrem Mann plötzlich macht. Warum sie mit einem Mal wissen will, warum genau er mit den beiden Models auf der Party keinen Sex hatte, ob er sich das nicht wenigstens vorgestellt habe und sie seine Erklärung, er sei schließlich verheiratet, als billige Ausrede interpretiert, mit der er sich vor der wahren Antwort drücken will, bleibt im Ungefähren; sie hat halt was geraucht, deshalb ist sie plötzlich brutal ehrlich. Hier stolpert die Dramaturgie zum ersten Mal.

Es ist in der Folge geradezu rührend, wie das Drehbuch von Kubrick und Frederic Raphael dem unbedarft treuen Arzt allerlei Frauen an den Hals dichtet. Sie alle tauchen so auch in Schnitzers Textvorlage auf. Im Film wirken sie wie Comicfiguren: Die Tochter des verstorbenen Patienten, die Bill just in dem Moment aus der Wohnung klingelt, als Alice ihm ihr Geständnis macht, und die ihm kurz darauf, Liebesschwüre hauchend, um den Hals fällt; die freundliche Prostituierte, die ihn mit sicherem Griff aus der Menge heraus pickt und beinahe verführt, hätte nicht sein Handy im letzten Moment geklingelt; die minderjährige Tochter des Kostümverleihers, deren, nun ja, Offenherzigkeit ihr Vater für gute Geschäfte unter der Ladentheke nutzt; die unbekannte Schöne, die ihn bei der Orgie der Masken rettet und auch die freundliche Mitbewohnerin der freundlichen Prostituierten – sie alle sind Frauen, deren Wirken ohne Erklärung bleibt. Den Prostituierten geht es bei ihm nicht um Geld. Die Motive der unbekannten Frau bleiben im Dunkeln. Lediglich das Handeln der Tochter des Kostümverleihers lässt sich mit Geschäftstüchtigkeit erklären.

Kubrick versucht diese Schwächen in seinem Script mit inszenatorischer Finesse auszugleichen. Über allem steht die Erkenntnis des modernen Mannes: Die Frau zieht die Fäden, hat die Macht – sofern sie, aber das ist Grundvoraussetzung, von ihrem Mann geliebt wird. Kubrick lässt Tom Cruise durch das nächtliche New York streifen, das im Film immer auf derselben T-Kreuzung stattzufinden scheint; nur die Neonreklame wechselt von Situation zu Situation. Auf die Dauer von knapp 160 Minuten soll das den Eindruck vermitteln, Doctor Bill trete auf der Stelle. Die Orgie der Maskenmenschen inszeniert Kubrick mit Pomp und altem Geld. Das ist ein Rausch aus Farben und Ambiente, vermischt mit einem Hauch Horror.

Dazu betreibt er ein strenges Spiel mit Primärfarben: Rot repräsentiert Verführung und Sex wie im Sonata Café, wo er Nick, den Pianisten, wieder trifft, wie beim Leiter der Orgie, bei der Eingangstür der freundlichen Prostituierten oder beim Billardtisch des milliardenschweren Gastgebers von Filmbeginn, Viktor Ziegler. Gelb wird zur Farbe des Betrugs wie bei Zieglers Party, in Marions Wohnung und in Bills und Alices Schlafzimmer. Blau gerät zur Farbe von Gefahr und Angst. Als Bill sich vorstellt, wie Alice und der Schiffsoffizier miteinander schlafen, wird das mit blau eingefärbten Bildern gezeigt. Das ist visuell ausgefeilt, dramaturgisch aber bleibt der Film blass. Es bleibt der Eindruck, dass da ein alt gewordener Künstler seinen erotischen Phantasien freien – erlesen gefilmten – Lauf gelassen hat.

Es ist schwer zu sagen, was an dem Film letztlich nicht stimmt. Plump gesagt: Er findet lauter schöne Bilder, die ohne inhaltliche Entsprechung bleiben. Und Tom Cruise (Jerry Maguire: Spiel des Lebens – 1996; "Interview mit einem Vampir" – 1994; Geboren am 4. Juli – 1989; Die Farbe des Geldes – 1986) und Nicole Kidman verkörpern nicht die Charaktere, die sie spielen sollen. Als introvertierter Zweifler scheitert Cruise, der besonders in physischen Rollen überzeugt (Mission: Impossible – 1996; Die Firma – 1993; Eine Frage der Ehre – 1992; Tage des Donners – 1990; Cocktail – 1988; Top Gun – 1986). Nicole Kidman (Projekt: Peacemaker – 1997; "The Portrait of a Lady" – 1996; Batman Forever – 1995; Malice – Eine Intrige – 1993; In einem fernen Land – 1992; "Billy Bathgate" – 1991; Tage des Donners – 1990; "Todesstille" – 1989) sagte später in Interviews, dass für sie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion – zwischen Ehemann Tom Cruise und Spielpartner Tom Cruise – manchmal verschwammen und sie tatsächlich zu Alice wurde.

Ja, diese Adaption der Traumnovelle traumwandelt durch seine zweieinhalb Stunden, findet aber nie einen Anker, an dem der Zuschauer andocken möchte. Der Film läuft an ihm vorbei. Einen großen Auftritt als schwerreicher Victor Ziegler hat Sydney Pollack, im Hauptberuf Regisseur (Begegnung des Schicksals – 1999; Sabrina – 1995; Die Firma – 1993; Die drei Tage des Condor – 1975; Jeremiah Johnson – 1972), der großartig ambivalent den Gönner und machtbewussten Manhattan-Anwalt verkörpert. Pollack taucht eigentlich viel zu selten vor der Kamera auf (Zivilprozess – 1998; Ehemänner und Ehefrauen – 1992; The Player – 1992).

Ein Problem dieses Films ist, dass die literarische Vorlage in einer anderen Zeit spielt und nicht so ohne Weiteres auf die High Society im heutigen New York übertragbar ist. Schnitzers Intention, die Frage zu eruieren, wann Fremdgehen Fremdgehen ist, schon in der erotischen Fantasie oder erst, wenn es zum Austausch von physischen Zärtlichkeiten kommt, geht im Film unter der üppigen Inszenierung verloren. Auch ist der psychologische Hintergrund der Alice-Vorlage im 21. Jahrhundert nicht mehr gegeben: Bei Schnitzler heißt Alice "Albertine". Sie repräsentiert bei Schnitzler die typische Frau um die Jahrhundertwende. Sie hat früh geheiratet und ihre Triebe unterdrücken müssen, um jungfräulich in die Ehe zu gehen. Jetzt, da sie älter geworden ist, trauert sie dem nicht ausgekosteten Leben einer jungen Frau nach. Mehrfach neidet sie ihrem Mann dessen Jugend, in der er seine Sexualität nicht hat unterdrücken müssen.

Die psychoanalytische Komponente des Stoffes verliert durch die Verlagerung ins Hier und Jetzt an Glaubwürdigkeit; die Geschichte wird aus dem Sinnzusammenhang, der ursprünglich im Sittenkodex des frühen 20. Jahrhunderts angelegt war, gerissen. Und – andererseits – mit dem heutigen New York hat der Film auch wenig bis nichts zu tun. Anders ausgedrückt: Wir im Kinosessel haben keinen Anhaltspunkt für eine Orientierung. Aber erst, wenn ich Orientierung habe, kann ich einen Standpunkt einnehmen. Der bleibt verborgen. Wie das Gesicht hinter der Maske.

Wertung: 6 von 11 D-Mark
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