Buchcover: Panikherz
Benjamin und Udo
Ein biografischer Roman
Titel Panikherz
Autor Benjamin von Stuckrad-Barre, Deutschland 2016
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Ausgabe E-Book, 576 Seiten
Genre Biografie
Website stuckradbarre.de
Inhalt

Er wollte genau da rein: zu den Helden, in die rauschhaften Nächte – dahin, wo die Musik spielt. Erst hinter und dann auf die Bühne. Unglaublich schnell kam er an, stürzte sich hinein und ging darin fast verloren. Udo Lindenbergs rebellische Märchenlieder prägten und verführten ihn, doch Udo selbst wird Freund und später Retter.

Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine Geschichte, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Er wollte den Rockstar-Taumel und das Rockstar-Leben, bekam beides und folgerichtig auch den Rockstar-Absturz. Früher Ruhm, Realitätsverlust, Drogenabhängigkeit. Und nun eine Selbstfindung am dafür unwahrscheinlichsten Ort – im mythenumrankten „Chateau Marmont“ in Hollywood, in das ihn Udo führte. Was als Rückzug und Klausur geplant war, erweist sich als Rückkehr ins Schreiben und in ein Leben als Roman.

Drumherum tobt der Rausch, der Erzähler bleibt diesmal nüchtern. Schreibend erinnert er sich an seine Träume und Helden – und trifft viele von ihnen wieder. Mit Bret Easton Ellis inspiziert er einen Duschvorhang, er begegnet Westernhagen beim Arzt und Courtney Love in der Raucherecke und geht mit Thomas Gottschalk zum Konzert von Brian Wilson. Andere sind tot und werden doch gegenwärtig, Kurt Cobain, Helmut Dietl …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Panikherz

Sieht das Leben einen zweiten Akt vor – where the slow things happen? Benjamin von Stuckrad-Barre hätte sein Leben so gerne mit einer Dramaturgie wie im klassischen Dreiakter – aber daraus wird nichts, jedenfalls nicht bis zu dem Punkt, an dem seine Autobiografie unter dem Titel „Panikherz“ endet. Er, der lieber am Rand kommentiert, als mittendrin zu stehen (… „das macht schon Spaß, ist eine Notfallstrategie, die ich noch vom Schulhof kannte. Andere beobachten, anerkennen, dass der eigene Platz am Rand ist, gezielt die Schwächen der anderen herausfinden: und dann drauf da.“), hätte halt so gerne ein Heldenepos statt eines banalen Lebens, stellt aber an jedem neuen Tiefpunkt fest, dass der Satz There are no second Acts in American Lives, den er F. Sott Fitzgerald zuschreibt, wohl stimmt. Das Leben, seines zumal, hält eben keinen literarischen Rahmen vor, sondern nur, was Du mit Dir nimmst. Meister Yoda hat das einst gesagt, als er Luke Skywalker in die Höhle schickte und der fragte, was er dort finden werde; nur, was Du mit Dir nimmst.

Frechheit siegt

Mit Star Wars hat Stuckrad-Barre nichts am Hut, aber Legenden zitieren und diese Zitate über sein Provinz geborenes Leben stülpen, das mag er – offenbar hoffend, dass dies seinem Leben, wenn schon keine Fitzgerald-Dramaturgie, so doch wenigstens die Bedeutung eines großen Kunstwerks, eines Rock- oder Punk-Stücks gibt. Viel nimmt er nicht mit in dieses Leben, das in der niedersächsischen Provinz Anlauf nimmt. Als Sohn eines frühen Öko-Paares, er zudem noch Pastor, ist er der Außenseiter an der Schule, als der er sich behaupten und durchsetzen muss. Kampfgeist entwickelt er, Kampfgeist ist das, was er mit sich nimmt in die große weite Welt. Dort will er Udo Lindenberg kennenlernen, will in die Musikbranche, will schreiben und berühmt werden.

Das gelingt ihm alles – Frechheit siegt – mit erstaunlicher Leichtigkeit. Ohne Studium, ohne deutsch kartografierte Lehre, kommt er in seinem Metier ganz nach oben, wird eine Berühmtheit in der Medienbranche, kennt jeden, macht sich sarkastisch über jeden lustig („Man sieht ihr an, dass sie aus Schönheitsgründen seit Jahrzehnten keinen interessanten Satz mehr sagen musste, sie spricht sehr langsam, wenn überhaupt.“) und wenn das Leben schon keinen zweiten Akt kennt, so ist es doch der Auffassung, dass jeder alles durchlebt haben muss. Also stürzt er ab.

Dieses Buch, „Panikherz“, handelt von Udo Lindenberg, einem Hotel in Los Angeles und davon, wie Barre sich mit Hilfe von Alkohol und verschiedenen Drogen fast tötet. Ein Buch wie ein unvergesslicher Rausch. Weil es von Menschen wie Thomas Gottschalk oder Lindenberg erzählt. Weil es in einem Luxushotel in Los Angeles spielt und man selbst beim Lesen gerne dort wäre – weil Barre so selbstentleibend von sich erzählt. Es bleibt unklar in dieser Biografie – bei der man nicht so recht weiß weiß, wo Wahrheit endet und ob Fiktion beginnt – warum er magersüchtig wird, es muss reichen, dass er „für die nächste Show“ immer noch dünner sein will.

Der Abflug in die Drogenhölle aber klingt logisch und konsequent – anstatt sich dauernd die Hand in den Rachen zu rammen, sich dabei den Handrücken an den Zähnen aufreißend, um das gerade Verschlungene wieder auszuspeien, nimmt er Kokain; da hat man keinen Hunger mehr („Rotlicht, Zwielicht, Blaulicht. Tageslicht lieber nicht.“). Stuckrad-Barre erzählt das alles mit ironischer Distanz, sitzt mit sich ebenso sarkastisch zu Gericht, wie zuvor mit all den Normalos, die er in seitenlanger Suada mit Verachtung übergießt („Wer sagt, Ich würde gerne mehr lesen, lügt, gibt sich aber auf Autofahrten supergern Hörbücher – und demnächst mal zusammen ‘ne Nudel nehmen, Sushi einwerfen, paar Bierchen verhaften? (...) Wer von seinem Haus im Grünen schwärmt, Ja, ist zwar ‘n Stück draußen, aber ruhig und toll für die Kinder, möchte Absolution für seinen sozial deformierten Aufsitzmäheralbtraum in seiner Derrick-Opfer-Bude. Wer fragt, Hab‘ ich denn Deine Kontaktdaten?, hat einen Scheißjob, beendet Mails mit Lokalwetterlageschilderungen und deren durch Emoticons tautologisierter Auswirkung auf die eigene Verfasstheit, frierende Grüße aus dem winterlichen München oder verregneten Gruß aus dem grauen Hamburg. Wer nervös rumfragt, ob jemand ein Ladekabel dabei hat, hat sein Leben nicht im Griff. Wer ein Ladekabel dabeihat, bucht Urlaube sehr lang im Voraus und schreibt Kundenkritiken im Internet; kann außerdem gut: Anbieter wechseln (egal wovon) und bei technischen Problemen anderer geduldig sagen, Geh mal auf Einstellungen. Wer sich auf den Bauch klopfend sagt, Ich müsste auch mal wieder was machen und damit Sport meint, hat seinen Körper längst aufgegeben, sagt beim zuprosten, er halte es mit Churchill, No Sports, superlustig, und zu sporadischem Hanteltraining: da täte es ja anschließend weh an Stellen, von denen er gar nicht gewusst habe, dass da Muskeln seien, hehe – wird aber mit 50 einen Marathon laufen und dabei zu enge Hosen ragen. Das Zielfoto mit Medaille wird geposted, und das Elend könnte kaum größer sein. Wer die Frage nach seinem Wohlergehen beantwortet mit Du, gut so weit, bisschen stressig momentan, aber sonst – nee, im Großen und Ganzen happy. Und selbst?, hätte nichts dagegen, bald zu sterben“.

Udo und Benjamin – Vater und Sohn

Mit Tempo, entblößender Ironie und runtergelassenen Hosen zerrt uns der Autor in und durch seine 40 Jahre Leben. Berühmt mit Mitte 20, Ziel erreicht. „Ich war jetzt groß und in Amerika. Und fühlte mich so klein wie lange nicht.“ Und jetzt? Absturz! Und dann? Wo bleibt der zweite Akt, where the slow things happen? Nur einer kann ihn bremsen. Wenn Udo da ist, ist alles gut. Der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund. Larmoyant wird er nie. Zwischen den Zeiten springend formuliert er Anklage, Verteidigung, Verbeugung, Entschuldigung eines Mannes, der eigentlich nur raus wollte, „Raus aus dem Dreck“, wie sein Idol Udo Lindenberg das besang, der so sein will wie Udo, der Udo in Musikkritiken verreißt und von diesem quasi als Pflegesohn adoptiert wird – auch wenn der von Stuckrad-Barre beschriebene Udo so etwas niemals – schubidu und so, ne? – so sagen würde.

Benjamin und Udo – eine Liebesgeschichte, eine Vater-Sohn-Erzählung mit Emanzipation und Wiederannäherung, eine großer-Bruder-kleiner-Bruder-Abenteuererzählung durch 20 Jahre Musikgeschichte. Stuckrad-Barre schreibt zwei Schritte vor, einen zurück. Der wegen Rückfallgefahr mittlerweile an San Pelegrino gefesselte Stuckrad-Barre hat sich im legendären Chateau Marmont eingegraben und erzählt unverhohlen bewundernd über die Helden der 70er, Udo Lindenberg, Bret Easton Ellis, Elvis Costello, die Bates, die Toten Hosen und – in Ansätzen später auch – Thomas Gottschalk. Lindenberg, der Hotel-Fan, spendiert die Marmont-Sause, aber das ist nicht der Grund für die Liebeserklärung Stuckrad-Barres; er bewundert Lindenberg in echt: „Udo schaut mich an, reißt die Augen auf, wie er das nur tut, wenn es wirklich kurz mal wichtig wird, denn meistens ist es ihm ja darum bestellt, die allseitige PANIK runterzucoolen, alles zu verkleinern, zu zerblödeln und zu angenehmisieren. Aber nicht jetzt. Er nuschelt jetzt auch fast gar nicht. Am Vorabend, sagt Udo, hätte ich ihm ja endlich mal genauer erzählt, was er als Freund ohnehin gewusst habe, dass ich nämlich momentan in einem sehr dunklen, nichtendenwollenden seelischen Dauernovember gefangen sei – und er habe eine Idee, was man da machen kann. Er selbst müsse zwar zurück nach Deutschland, irgendeinen Preis verliehen bekommen, ich aber solle doch einfach hier bleiben, in diesem Garten und in diesem kalifornischen Hotel Atlantic, das sei doch jetzt genau das Richtige für mich: das Licht, die Stimmung, die Leichtigkeit hiesigen Seins. ich solle einfach hier bleiben, bis der Winter in mir vorüber ist. Bisschen auf Vorrat die Sonne einsammeln, hm, Stuckiman?

Ego-Exibititionismus

Bis zu dieser Stelle des Buches kannten wir Stuckrad-Barres „Dauernovember“ aus Erinnerungen an Berichte aus der Klatschpresse. Aber der Ego-Exibitionist bleibt nichts schuldig, zerrt uns mit in seinen Drogenexzesse, das stundenlange, zugekokste im-Kreis-herumlaufen auf der Suche nach dem, was er eigentlich gerade vorhatte und wenn er uns was schuldig bleibt, dann höchstens die Antwort auf die Frage, wie er, der sagt, immer gleich alles wieder vergessen zu haben, sich erinnern kann, was er im Drogenrausch gesagt, getan, wen er getroffen hat – aber das ist dann auch nicht wichtig, vielleicht extrapoliert der Autor in eigener Sache hier und da, was er will, wird allemal deutlich. Stuckrad-Barre kann schreiben, wie wenige sonst. Das Buch fließt frisch gezapft die Kehle runter und die Szenen mit Udo Lindenberg möchten einfach wahr sein – so in etwa habe ich ihn mir als Teenager immer vorgestellt, wenn ich seine Platten gehört habe.

Das Leben liefert keinen zweiten Akt. Es ist ein Fluss – mal ein langer, ruhiger, mal ein kurzer, reißender.

Ich habe „Panikherz“ zwischen 5. und dem 19. Juli 2016 gelesen.