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Plakatmotiv: Zeit der Unschuld (1993)

Ein prachtvoller Bilderrausch über
eine verkommene Gesellschaft

Titel Zeit der Unschuld
(The Age of Innocence)
Drehbuch Jay Cocks & Martin Scorsese
nach dem gleichnamigen Roman von Edith Wharton
Regie Martin Scorsese, USA 1993
Darsteller
Daniel Day-Lewis, Michelle Pfeiffer, Winona Ryder, Linda Faye Farkas, Michael Rees Davis, Terry Cook, Jon Garrison, Richard E. Grant, Alec McCowen, Geraldine Chaplin, Mary Beth Hurt, Stuart Wilson, Howard Erskine, John McLoughlin, Christopher Nilsson u.a.
Genre Drama, Romanze
Filmlänge 139 Minuten
Deutschlandstart
18. November 1993
Inhalt

New York in den 1870ern: Anwalt Newland Archer ist verlobt mit der hübschen, naiven May Welland, einer standesgemäßen Partie. Er beginnt sein geplantes Leben zu hinterfragen, als ihre Cousine, die schöne Gräfin Ellen Olenska, ankommt.

Die Gräfin hat ihren ausfallend werdenden Ehemann, einen polnischen Grafen, verlassen, was sie in der High-Society zur Außenseiterin macht und ihre Familie einen offenen Skandal fürchten lässt. Archer verliebt sich leidenschaftlich in die unkonventionelle Ellen und beginnt an der New Yorker Gesellschaft, ihrer Moral und ihren Ansichten zu zweifeln. Dementsprechend hadert er mit der Aussicht auf eine leidenschaftslose Ehe mit May und mit seinem Leben in einem erstarrten gesellschaftlichen System.

Plakatmotiv (US): The age of Innocence – Zeit der Unschuld (1993)Es fehlt ihm jedoch der Mut, seine Verlobung zu lösen und aus der Gesellschaft auszubrechen. Auch nach seiner Eheschließung mit May hält seine heimliche Liebe zu Ellen Olenska an, woraus sich allerdings nie eine richtige Affäre entwickelt. In dem Moment, in dem Archer tatsächlich über einen Ehebruch und ein Verlassen Mays nachdenkt, entzieht sich Ellen ihm: Sie hat noch vor Archer von Mays Schwangerschaft erfahren …

Was zu sagen wäre

Ein streng durchkomponierter Film, dessen Ausstattung in der üppigen Eleganz der damaligen Epoche 1870er schwelgt. Michael Ballhaus malt Gesichter in Licht und Schatten, Wildgerichte, dargereicht auf elegantem Porzelan mit Silberbestecken von livrierten Dienern unter Kristalllüstern. So wenig, wie sich die im Bild Handelnden gesellschaftliche Fehltritte erlauben, so wenig geben sich Scorsese, Ballhaus und Thelma Schoonmaker eine Blöße. Alle bleiben streng in ihrer Haltung und erzählen straight zu Ende. Ein sehr elegantes Kunstwerk – das man heute ein wenig herbei beschwören muss, denn natürlich bergen die damaligen Zwänge 120 Jahre später ein gewisses, ermüdendes Schwerverständnis.

Alles beginnt in einer Aufführung in Charles Gounods Oper Faust. Das Publikum, die Oberen Tausend von New York, labt sich am Drama mephistolischer Liebe und Marguerites Ehrverlust, als Faust sie verlässt und sie als Betrogene dahinschmachtet. Im Publikum sitzt auch Ellen Olenska, frisch getrennt von einem europäischen Grafen zurück in die Heimat gekommen. Sie wird als Affront wahrgenommen; die Gesellschaft schneidet sie. Die Trennung von einem Mann war in gewissen Kreisen um 1870 noch nicht gesellschaftsfähig. Scorsese erzählt mit opulentem Aufwand über diese Gesellschaft, die in ihren engen Konventionen zu ersticken droht. Die Vorstellungskraft jedes Einzelnen geht nur bis zur nächsthöheren gesellschaftlichen Instanz: Wenn diese erhabene Person an die Gefallene glaubt, dann auch ich.

Ein fein gesponnenes Regelwerk durchzieht diese Gesellschaft, die durchaus nicht so moralisch erhaben ist, wie sie sich gibt. Außereheliche Begattungen sind so alltäglich, wie elegant arrangierte Ehen, durch die zwei Familien zu mehr Einfluss in der Gesellschaft kommen. Über letztere spricht man offen und ausdauernd, über erstere nur hinter vorgehaltener Hand. Eine solche Ehe gehen Newland Archer und May Welland ein. Sie überzeugt von der Institution und ihrem gesellschaftlichen Stand, er zunehmend grübelnd: „Er fühlte, wie sie in ihre farblose Märchenhaftigkeit zurück sank“, heißt es aus dem Off. „Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen. Es ist herrlich, dachte er, dass so tiefe Gefühle trotz völligen Mangels an Fantasie existieren konnten.“ Winona Ryder geht ganz in dieser Rolle auf, sie ist personifiziertes Entzücken. Alles rotzig Rebellische, das in anderen Ryder-Rollen durchblitzt (Bram Stokers Dracula – 1992; "Night on Earth" – 1991; Meerjungfrauen küssen besser – 1990; Edward mit den Scherenhänden – 1990; Great Balls of Fire – 1989; Beetlejuice – 1988), ist hier unter prachtvoller Garderobe, Michael Ballhaus' hautschmeichelnder Lichtsetzung und naivem Charme verdeckt. Aber der Eindruck eines Opferlamms, eines bezaubernden Rehauges in Tüll, das gar nichts dafür kann, so zu sein, wie sie ist, hält nur vor bis zu jenem Moment, an dem der Zuschauer realisiert, dass sie ein Raubtier ist, das genau weiß, wann es seine Krallen zeigen muss. Sie ist trainiert … erzogen, sagt man wohl. „Es ist zwecklos, eine Frau emanzipieren zu wollen, der überhaupt nicht bewusst war, unfrei zu sein.

Ihren Widerpart wider Willen, Ellen Olenska, spielt Michelle Pfeiffer (Batmans Rückkehr – 1992; Frankie und Johnny – 1991; Das Russland-Haus – 1990; "Die fabelhaften Baker Boys" – 1989; Gefährliche Liebschaften – 1988; Tequila Sunrise – 1988; Die Mafiosi-Braut – 1988; Die Hexen von Eastwick – 1987; Der Tag des Falken – 1985; Kopfüber in die Nacht – 1985; Scarface – 1983; Grease 2 – 1982). „Wenn ich Dich lieben soll, muss ich Dich aufgeben!“, erklärt sie Archer. Die Gräfin Olenska ist so etwas wie die Freie Radikale in der Gesellschaft. Sie hat gegen deren Auflagen verstoßen und wurde von ihr verstoßen und später nach einem komplizierten Eiertanz von ihr wieder aufgenommen. Aber sie bleibt eine Außenseiterin, Tuschelthema für die Damen, sexuell interessant für die Herren. Und ihr ist das völlig egal. Sie hat diese Gesellschaft schon vor Jahren verlassen, als sie nach Europa ging und sobald es jemand schafft, diese Gesellschaft lebend zu verlassen, hat diese Gesellschaft nie mehr Einfluss auf ihn oder sie. Pfeiffer spielt diesen Spagat zwischen charmanter Dame und gesellschaftlicher Härte über ihre blassblauen Augen, mit denen sie im vergangenen Jahr der Catwoman unerwartete Tiefe schenkte. Eben noch sind diese Augen, eingebettet in Porzelanhaut, tränenumflort gerötet, im nächsten blicken sie kühlblau dem Gegenwind entgegen, der schon wieder kommt, um im nächsten in Zusammenarbeit mit Lippen und Nase ein perfekt modelliertes Lächeln in den Ballsaal zu schicken. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie dieser Film ohne Pfeiffer und Ryder hätte funktionieren sollen.

Zwischen den beiden Frauen steht Daniel Day-Lewis mit der ganzen gesellschaftlichen Seriösität seiner markanten Gesichtszüge (Der letzte Mohikaner – 1992; Mein linker Fuß – 1989). Er macht das beste aus seiner Rolle, die weniger reizvoll ist, als die der beiden Frauen; er als Mann hält halt die Fäden und kann selber entscheiden, wie er vorgeht. Er hat nur eine Hürde, die er überwinden muss, als er sich ernsthaft – und außerhalb seiner arrangierten Ehe – in Ellen verliebt. „Du hast mir den Blick für das wahre Leben geöffnet und mir dann befohlen, dass ich ein künstliches weiterleben soll. Kein Mensch kann so etwas ertragen“, sagt er zu Ellen und die erwidert. „Ich ertrage es immer noch.“ Den Konventions-Profi, der mit Gefühlen nur schwer umgehen kann, spielt Day-Lewis mit kunstvoller Unaufdringlichkeit.

Auch wenn die Kostüme andere sind und es keine Schießereien gibt, fügt sich auch dieser Scorsese-Film ins Œvre Martin Scorseses (Kap der Angst – 1991; GoodFellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia – 1990; "Die letzte Versuchung Christi" – 1988; Die Farbe des Geldes – 1986; New York, New York – 1977; Taxi Driver – 1976; Hexenkessel – 1973). Er gibt Einblicke in eine streng hierarchische, abgeschlossene Welt, in die nur Zugang erhält, der dazugehört. Wer gegen die Regeln verstößt, wird nicht erschossen, aber verdammt ins gesellschaftliche Aus. Und natürlich ist dieser Kosmos, dessen "Unschuld", die der Filmtitel verspricht, ebenso nur Fassade ist, wie in der "ehrenwerten Gesellschaft", in New York beheimatet.

Wertung: 9 von 10 D-Mark
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