Buchcover: Wolfgang Herrndorf - tschick
„Landkarten sind was für Muschis“
Auftakt einer großen Erzählung
Titel tschick
Autor Wolfgang Herrndorf, Deutschland 2010
Verlag rowohlt
Ausgabe Gebunden, 253 Seiten
Genre Drama, Komödie
Website „Arbeit und Struktur“ - die letzten Blogeinträge Wolfgang Herrndorfs
Inhalt

Maik ist vierzehn und stammt aus Berlin Marzahn. In seiner Klasse hieß er vorübergehend „Psycho“, weil er in einem Aufsatz über seine Mutter deren wiederholte Ausflüge in die „Beautyfarm“ schilderte, die in Wirklichkeit Entziehungskuren sind. Da er aber in der Schule als eher langweilig gilt oder sich zumindest so fühlt, blieb auch der Spitzname nicht an ihm haften. Erst als der Russe „Tschick“ in der Klasse auftaucht – mit Alkoholfahne und demonstrativem Desinteresse – verändert sich die Ausgangslage.

Tschick steht zu Ferienbeginn in einem gestohlenen Lada bei Maik vor der Tür, um ihn aus seiner Einsamkeit zu erlösen. Denn die Mutter ist mal wieder auf Beauty, der Vater mit einer „Assistentin“ auf „Geschäftsreise“. Da ist es doch nur recht und billig, wenn die beiden sich nun auch aufmachen: Erst zu der schönen Tatjana, in die Maik sinnlos verliebt ist und die ausgerechnet ihn nicht zu ihrem Geburtstagsfest eingeladen hat, und dann ab in die Walachei, denn die gibt es, wie Tschick versichert, im Unterschied zu Pampa und Jottwede wirklich. Sie liegt irgendwo im Südosten …

Was zu sagen wäre
tschick

Mein erstes Buch nach den 1.328 langen Seiten von Limit. „tschick“ habe ich zum 50. Geburtstag von meinem Patensohn geschenkt bekommen, der versichert, er habe seine Mutter nachts im Bett ununterbrochen lachen hören, während sie das Buch las. Ich lache eher in mich hinein, als laut nach draußen. Ändert aber nichts an der lesenden Gesamtsituation: Sehr spaßig!

Auszug, Kapitel 20: Ich hatte meinen Arm aus dem Fenster gehängt und den Kopf darauf gelegt. Wir fuhren Tempo 30 zwischen Wiesen und Feldern hindurch, über denen langsam die Sonne aufging, irgendwo hinter Rahnsdorf, und es war das Schönste und Seltsamste, was ich je erlebt habe. Was daran seltsam war, ist schwer zu sagen, denn es war ja nur eine Autofahrt, und ich war schon oft Auto gefahren. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man dabei neben Erwachsenen sitzt, die über Waschbeton und Angela Merkel reden, oder ob sie eben nicht da sitzen und niemand redet. Tschick hatte sich auf seiner Seite auch aus dem Fenster gehängt und steuerte den Wagen mit der rechten Hand eine kleine Anhöhe hinauf. Es war, als ob der Lada von alleine durch die Felder fuhr, es war ein ganz anderes Fahren, eine andere Welt. Alles war größer, die Farben satter, die Geräusche Dolby Surround, und ich hätte mich, ehrlich gesagt, nicht gewundert, wenn auf einmal Tony Soprano, ein Dinosaurier oder ein Raumschiff vor uns aufgetaucht wäre.

Wir waren auf dem direktesten Weg aus Berlin rausgefahren, den Frühverkehr hinter uns lassend, und steuerten durch die Vororte und über abgelegene Wege und einsame Landstraßen. Wobei sich als Erstes bemerkbar machte, dass wir keine Landkarte hatten. Nur einen Straßenplan von Berlin.

„Landkarten sind was für Muschis“, sagte Tschick, und da hatte er logisch recht. Aber wie man es bis in die Walachei schaffen sollte, wenn man nicht mal wusste, wo Rahnsdorf ist, deutete sich da als Problem schon mal an. Wir fuhren deshalb erstmal Richtung Süden. Die Walachei liegt nämlich in Rumänien, und Rumänien liegt im Süden.
Das nächste Problem war, dass wir nicht wussten, wo Süden ist. ...

Am meisten beeindruckt hat mich, dass ich mich durch Herrndorfs Schreibe zunächst mal habe ablenken lassen. Der Text liest sich so wie Heinz Strunks „Fleisch ist mein Gemüse“ – also lustig an sich. Erst in der zweiten Hälfte wird mir bei „tschick“ klar, was ich hier für eine fantastische Coming-of-Age-Geschichte lese. Was für eine kraftvolle Geschichte aus diesem einen Sommer … diesen Sommer, den es in jedem Jungs-Leben nur eimal git, den Sommer der Entscheidung eben.

Ob unser Erzähler Maik partout nicht glauben möchte, dass die Walachei nicht nur ein sprichwörtliches Nichts ist, sondern ein realer Ort, ob er das Mädchen neben sich den entscheidenden Tick zu spät kapiert, „tschick“ ist ein Roman, den ich jedem ab 14 Jahre aufwärts bis Ende nur wärmstens ans Herz legen kann.

Auszug, Kapitel 32, nachdem Maik dem Mädchen Isa die Haare abgeschnitten hat, wofür die sich – „Ich will nicht, dass das T-Shirt voll Haare wird.“ – ihr T-Shirt ausgezogen hat: Isa hatte ihr T-Shirt noch immer nicht angezogen, und vor uns lagen die Berge mit ihrem blauen Morgennebel, der in den Tälern vorne schwamm, und dem gelben Nebel in den Tälern hinten, und ich fragte mich, warum das eigentlich so schön war. Ich wollte sagen, wie schön es war, oder jedenfalls wie schön ich es fand und warum, oder wenigstens, dass ich nicht erklären konnte, warum und irgendwann dachte ich, es ist vielleicht auch nicht nötig, es zu erklären.
„Hast Du schon mal gefickt?“, fragte Isa.
„Was?“
„Du hast mich gehört.“
Sie hatte ihre Hand auf mein Knie gelegt, und mein Gesicht fühlte sich an, als hätte man heißes Wasser draufgegossen.
„Nein“, sagte ich.
„Und?“
„Was und?“
„Willst Du?“
„Was will ich?“
„Du hast mich schon verstanden.“
„Nein“, sagte ich.
Meine Stimme war ganz hoch und fiepsig. Nach einer Weile nahm Isa ihre Hand wieder weg, und wir schwiegen mindestens zehn Minuten, von Tschick immer noch keine Spur. Auf einmal kamen mir die Berge und das alles ziemlich uninteressant vor. Was hatte Isa da gerade gesagt? Was hatte ich geantwortet? Es waren nur ungefähr drei Worte, aber – was bedeuteten sie? Mein Gehirn nahm ungeheuer Fahrt auf, und ich würde schätzungsweise fünfhundert Seiten brauchen, um aufzuschreiben, was mir in den nächsten fünf Minuten alles durch den Kopf ging. (…) Aber tatsächlich wollte ich gar nicht mit ihr schlafen. Ich fand Isa zwar toll und immer toller, aber ich fand es eigentlich vollkommen ausreichend, in diesem Nebelmorgen mit ihr dazusitzen und ihre Hand auf meinem Knie zu haben, und es war wahnsinnig deprimierend, dass sie die Hand jetzt wieder weggenommen hatte. Ich brauchte eine Ewigkeit, bis ich mir einen Satz zurechtgelegt hatte, den ich sagen konnte. Ich übte diesen Satz in Gedanken ungefähr zehnmal, und dann sagte ich mit einer Stimme, die klang, als würde ich gleich einen Herzinfarkt kriegen: „Aber ich fand es schön mit deiner … ähchrrm Hand auf meinem Knie.“
„Ach?“
„Ja.“
„Und warum?“
Und warum, mein Gott. Der nächste Herzinfarkt.

Am Ende habe ich nicht mehr gelacht. Am Ende hatte ich ununterbrochen Gänsehaut. Obwohl sich der Ton der Erzählung nicht verändert hatte. Großartig!!

Ich habe „tschick“ im Zeitraum 21. August bis 16. September 2011 gelesen.