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Plakatmotiv: 303 (2018)
Liebesgeschichten sind keine
Fernseh-Sendeplatz-Befüller
Titel 303
Drehbuch Hans Weingartner + Silke Eggert + Sergej Moya
Regie Hans Weingartner, Deutschland 2018
Darsteller Mala Emde, Anton Spieker, Arndt Schwering-Sohnrey, Thomas Schmuckert, Jörg Bundschuh, Steven Lange, Martin Neuhaus, Hannah Schröder, Sophia Tschanett u.a.
Genre Romanze, Drama
Filmlänge 145 Minuten
Deutschlandstart
19. Juli 2018
Website 303film.de
Inhalt

Die 24-jährige Studentin und angehende Biologin Jule ist durch ihre Prüfung gefallen, außerdem ist sie ungewollt schwanger. Sie denkt über einen Schwangerschaftsabbruch nach, vorher will sie aber noch mit ihrem Freund Alex sprechen, der in Portugal seine Dissertation schreibt und keine Ahnung von ihrer Schwangerschaft hat. Sie fährt kurzentschlossen mit ihrem Wohnmobil (dem titelgebenden Hymer 303) los um ihren Freund in Portugal zu besuchen. An einer Tankstelle in der Nähe von Berlin trifft sie auf den gleichaltrigen Politik-Studenten Jan, der per Autostopp nach Spanien möchte, um dort seinen biologischen Vater kennenzulernen.

Jan wurde in Berlin von seiner ursprünglichen Mitfahrgelegenheit versetzt, was ihn aber nicht überrascht, da er davon überzeugt ist, dass der Mensch von Natur aus egoistisch ist. Jule dagegen ist der Meinung, dass der Mensch ein kooperatives und empathisches Wesen ist, und bietet Jan daher einen Platz in ihrem Wohnmobil an. Zwar sollte es zunächst gemeinsam nur bis Köln gehen, allerdings verstricken sich die beiden in tiefsinnige Gespräche über die Natur des Menschen, den Kapitalismus, Kooperation gegen Wettbewerb, die Liebe und den Sinn des Lebens. Während Jule an die romantische Liebe und Kooperation glaubt, ist Jan davon überzeugt, dass den Menschen der Wettbewerb im Blut liegt. So erklärt Jule Jan etwa Darwins Theorie des Survival of the Fittest, wonach nicht der Stärkste überlebt, sondern der am besten Angepasste. Und Jan ist beispielsweise der Meinung, dass Küssen lediglich einen Form der Prüfung der Kompatibilität der Gene darstelle und die Menschheitsgeschichte ein einziges Blutbad sei.

Mit Diskussionen über Fragen, ob der Kapitalismus den Menschen zum Neandertaler macht, ob Monogamie ins Unglück führt und ob man sich aussuchen kann, in wen man sich verliebt, durchqueren die beiden Frankreich und erreichen schließlich Spanien. Auf der Fahrt kommen sich Jule und Jan immer näher, die Gespräche werden immer persönlicher und es fällt ihnen zunehmend schwer, sich nicht ineinander zu verlieben …

Was zu sagen wäre

Mit Mitte 20 verblasst der ehemals grenzenlose Zauber. Du checkst, wie die Dinge laufen. Du hast Abi, Du hast mehr oder weniger studiert, bist ein bisschen rumgekommen, hast in Semesterferien-Jobs gelernt, dass der Chef keine Kooperative will sondern Angestellte, die Aufträge abarbeiten. Du hast mindestens die erste ernstzunehmende Beziehung in den Sand gesetzt, kurz: Du ahnst, wie es läuft, das Leben, das Dir zu Beginn wie ein großes Abenteuer mit Fantasy-Feuerwerk vorkam, verliert ein paar Blätter, Du beginnst, Deinen Platz als Rädchen im Getriebe zu finden. Die Farben verblassen ein wenig – melancholisches Pastell statt Feuerwerk in Primärfarben. Hans Weingartner hat seinen Film in Pastelltönen fotografiert. Seine beiden Helden stehen nach ersten Niederlagen im Tor zum Leben im System.

Jeder im Kinosaal weiß: Die kriegen sich! Was streiten die sich also über Kapitalismus, Egoismus, Konkurrenzdenken oder Kooperation? Das führt doch zu nichts, schon gar nicht zu einer filmtauglichen Dramaturgie. Weit gefehlt. Erstmal schmeißt Jule ihren Beifahrer an der nächsten Raststätte wieder raus. Jan glaubt nämlich, das einer, der sich selbst tötet, ein unglaublicher Egoist sei, dem alle anderen scheißegal seien und Jule findet, dass ihr das zu nah an die eigene Biographie geht. Sie finden – Fernfahrerromantik – sich ein paar Raststätten später wieder, er rettet sie vor einem aufdringlichen Arschloch, Entschuldigungen werden ausgetauscht, das Angebot Jules, wieder einzusteigen, angenommen und in Köln, wo die gemeinsame Tour eigentlich enden sollte, beschließen beide, es noch „ein paar 100 Kilometer oder so“ miteinander im selben Auto zu versuchen. Und dann reden sie wieder.

Es geht um die Vorteile, die der Cro-Magnon-Mensch als kooperativ denkendes Wesen gegenüber dem vor allem auf Revier-verteidigen beschränkten Neandertaler hatte, Jule findet es schlimm, dass das kapitalistische System zwecks Gewinnmaximierung die Vereinzelung des Individuums herbei wirbt, Jan findet, so sei das halt, die Kunst sei, sich damit zu arrangieren. Beide sind keine Isch-geh-Supermarkt-Menschen, beide sind belesen, pflegen ein gewisses Halbwissen, das sie zu Argumenten ausbauen, die sie sich bei Waldspaziergängen um die Ohren hauen – während sie tatsächlich die ganze Zeit über sich selbst reden, ihr eigenes Leben reflektieren, in dem Jan von seinem Stiefvater maltraitiert wurde und Jule sich von Professoren, Freund Alex und der Mutter allein gelassen fühlt.

Das alles ergibt einen prima Roman. Visuell ist das alles erst einmal nicht reizvoll: zwei Typen im Wohnmobil, Landstraßen, Tankstellen, ein paar Sonnenuntergänge und dazu Dialoge als sei das französische Kino der 1980er Jahre auferstanden.

Hans Weingartner macht daraus einen berauschenden Tripp im Kinosessel. Seine beiden Protagonisten lässt er Dialoge improvisieren – der Inhalt, den diese Dialoge transportieren müssen, steht fest, die Art und Weise, wie Jule und Jan ihn austauschen, ist Sache der Schauspieler. Ein geschickter Kunstgriff, der aus dem zunächst nur sinnlos wirkenden Meinungsaustausch einen spannenden, weil authentisch wirkenden Blick auf das Leben Mitte 20 gewährt. Ohne Mala Emde allerdings wäre Weingartner wahrscheinlich gescheitert.

Die 22-Jährige ist die Wucht in Tüten, springt, lässig das Lenkrad des Wohnmobils kontrollierend, aus der Leinwand heraus direkt ins Herz des Zuschauers, der sich dort erinnert an seine frühen Liebesgeschichten, die auch in ihrem jeweiligen Prolog stundenlange Gespräche beinhalteten über den Sinn des Lebens, über die Komplikationen mit dem System, das im Widerspruch zur menschlichen Seele stehe, um sich dann, wenn man die Weltpolitik in beiderseitigem Einverständnis befriedet hatte, um die wirklichen wichtigen Fragen zu kümmern: Wer bist du? Wer bin ich? Und was macht das alles mit uns? Hilfreich ist auch, dass die beiden auf der Leinwand da oben auf Campingplätzen in Frankreich und Spanien übernachten – auch darin erkennt der geneigte Zuschauer Parallelen zu den eigenen ersten Liebesgeschichten. Die Reise der beiden Protagonisten mit den so konträren Zielen – der eine will seinen biologischen Vater kennenlernen, die andere dem Vater des gemeinsamen, ungeborenen Kindes die Vaterschaft schmackhaft machen – entwickelt einen Sog, der den Zuschauer nicht loslässt, egal wie banal manche Polit-Diskurse erscheinen mögen, die ohnehin immer nur ein Ich-will-wissen-wie-Du-tickst-Geschnuppere sind.

Nun dauert der Film aber 145 Minuten und es passiert, was zwangsläufig passiert, wenn ein Film wie „303“ auf einen Zuschauer stößt, der gewohnt ist, Filmromanzen in verträglichen 88-Minuten-Sendeplätzen am Sonntagabend serviert zu bekommen: Irgendwann, als die beiden sich dann doch endlich mal irgendwie geküsst haben und die Nacht auf gleicher Schlafstadt im Wohnmobil in grandioser Bergkulisse verbracht haben, wäre es dann ja nun eigentlich Zeit, unter musikalischer Begleitung von Violinen und Fanfaren ins große Happy End samt romantischem Sonnenuntergang zu fahren. Tun sie aber nicht. Es geht noch 20 Minuten weiter. Und der Score hat auch weder Violinen noch Fanfaren im Angebot.

Das ist ein komplizierter Moment in diesem Film, für den Michael Regner einen Violine-freien, dennoch wunderbar melancholischen Soundtrack zusammengestellt hat. Aber Hans Weingartner (Free Rainer – Dein Fernseher lügt –2007; „Die fetten Jahre sind vorbei“ – 2004; „Das weiße Rauschen“ – 2001) dreht eben nicht für Fernsehsendeplatz-Slots. Weingartner erinnert sich – vielleicht – an eigene Liebesgeschichten aus jungen Jahren und weiß daher, dass Liebe nicht so einfach ist, manchmal macht sie Umwege. Und genaugenommen ist ja auch weder klar, was in dieser Nacht in grandioser Bergkulisse eigentlich im Wohnmobil geschehen ist (das wird nämlich nicht gezeigt), noch etwa ist klar, was mit dieser Schwangerschaft ist, wie Jan eigentlich reagiert, wenn Jule ihm nur erst einmal ihre Schwangerschaft offenbaren würde. Und was eigentlich Jule immer noch weiter nach Süden in dieses Camp treibt, in dem jener Alex – Vater des Ungeborenen und während einiger Telefongespräche Jules mit ihm längst als Blödmann erkennbar – offenbar sehr promiskuitiv lebt. Bleibt sie am Ende doch bei ihm, dem Vater ihres Kindes? Jule und Jan stehen ja nicht vor irgendeiner Liebesgeschichte. Wenn überhaupt, dann stehen sie vor dem, was man dann später den Kindern im Wohnzimmer als die Origin-Story der Familie verkaufen könnte. Und in der ist eben nach dieser Nacht in grandioser Bergkulisse noch gar nichts zu Ende erzählt.

So, wie vor allem Jule angelegt ist, könnte der Film in viele Richtungen enden.

Wenn dann der Abspann beginnt, war der Film nicht zu lang, ist die Geschichte nicht überdehnt worden. „303“ ist ein bewegender Film, spendabel, weil er uns einen Blick zurück erlaubt ins Damals, als wir Mitte 20 waren – oder weil er uns unsere Zweifel und Ängste nimmt, die wir empfinden, weil wir mit Mitte 20 noch nicht funktionieren.

Unter den Gesichtspunkten moderner Filmdramaturgie ließe sich der Film leicht zerlegen. Aber der Zauber des Kinos ist ja, dass manchmal das falsch Wirkende sich als das Richtige herausstellt – und dann jede Seminar-Theorie in Pastelltönen verblasst.

Wertung: 7 von 8 €uro
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