Buchcover: Schweres Beben
Erst bebt die Erde
dann die Familie
Titel Schweres Beben
(Strong Motion)
Autor Jonathan Franzen, USA 1992
aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz
Verlag Rowohlt
Ausgabe Gebunden, 685 Seiten
Genre Drama
Website macmillan.com/jonathanfranzen
Inhalt

Louis Holland, ein Rundfunktechniker, zieht nach Boston, wo seine Familie lebt: seine Mutter, eine frustrierte Aufsteigerin, sein Vater, ein linker Geschichtsprofessor, und seine Schwester, eine ganz und gar verwöhnte, ichsüchtige Frau. Kaum ist er eingetroffen, passiert Merkwürdiges – ungewöhnliche Erdbeben erschüttern die Stadt, und gleich das erste tötet seine Großmutter.

Während eines erbitterten Streits um das große Vermögen, das sie hinterlässt, verliebt sich Louis in Renée Seitchek, eine leidenschaftliche, kluge Seismologin, deren Enthüllungen über die Gründe der rätselhaften Erdstöße alles durcheinander bringen …

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Schweres Beben

In seinem vor dem Bestseller Die Korrekturen geschriebenen Roman verquickt Jonathan Franzen eine dramatische Familiengeschichte mit einem Erdbeben in Boston.

Wie in seinen bisher ins Deutsche übersetzten Romanen präsentiert Franzen jahrelang schwelende Familienkonflikte. Die Mutter von Louis möchte das Erbe an sich reißen, die Schwester von Louis taktiert mit Tränen und inszenierten Problemen und der Vater steht fassungslos daneben und verliert alles.

Franzen bleibt der fulminante Beschreiber und Fabulierer, der sich gern in Nebenschausplätze verliebt. Aber er hat aus den Fehlern seiner 27sten Stadt offenbar gelernt. Geschwätzig immer noch schweift er ab, baut Nebenhandlungen ein, die sich im Nichts verlieren und zieht Situationsbeschreibungen mit einer Umständlichkeit in die Länge, dass mir der rote Faden verloren geht.

Aber sobald er bei der Sache ist, bei den Geschichten um Louis und Renée, um Renée und einen Chemie-Skandal, Renée und christlich-fanatisierte Abtreibungsgegner, Louis und sein zerbröselndes Leben zwischen Kündigung und Unentschiedenheit, ist der Roman von einer wunderschönen Stringenz. Kühl bis in den Zynismus beschreibt Franzen seinen selbstsüchtigen Menschenpark, den unser ziellos klagender und beklagenswerter Held – ein kleiner Bruder von Chip, Franzens Versagerfigur aus den Korrekturen – schulterzuckend sein Schicksal beklagend zu verstehen versucht.

Ein insgesamt gesehen guter Roman, der sich im Alltag zwischen Arbeitsplatz, Einkäufen und anderen Verpflichtungen aber schwer unterbringen lässt. So manche verschwurbelt intonierte Nebenhandlung machte es schwer, mich immer an das Große und Ganze zu erinnern, wenn ich den 680-SeitenSchmöker erst nach ein paar Tagen wieder aufschlug.

Ich habe zwischen dem 25. Oktober und dem 25. November 2005 gelesen.

Leseproben? Bitteschön!
Schon die erste Seite lacht den Leser an „Los, lies weiter!”:

Wenn Eileen Holland gefragt wurde, ob sie Geschwister habe, musste sie manchmal einen Augenblick nachdenken.
In der Grundschule hatte sie mit ihren Freundinnen während der Pausen Ballhüpfen gespielt, und wenn es in einer fernen Ecke des Pausenhofs zu einer Keilerei kam, stellte sich meistens heraus, dass der, dessen Gesicht gerade aufs Pflaster gedrückt wurde, ihr jüngerer Bruder Louis war. Da ließen sie und ihre Freundinnen den Ball von Quadrat zu Quadrat einfach weiterhüpfen. Sie waren beim Seilspringen, als Louis auf den höchsten Sprossen des alten, tetanusversehrten Klettergerüsts mit einem Mitschüler kämpfte und sich bei seinem Sturz an jedem der Eisenrohre, gegen die es stieß, einen anderen Körperteil verletzte. Auf der obersten Ebene schlug er sich die Schneidezähne aus, auf der mittleren zog er sich eine Rippenprellung zu, die untere trug ihm eine Gehirnerschütterung samt Schleudertrauma ein, und der Aufprall auf dem Asphalt hatte eine Zwerchfelllähmung zur Folge. Eileens Freundinnen rannten hin, um sich den wahrscheinlich toten Jungen anzusehen. Sie selbst stand da, das Springseil in der Hand, und kam sich vor, als wäre sie es, die gestürzt war, und keiner eilte ihr zur Hilfe. (Seite 13)

In diesem ersten Absatz ist die Schwester hinreichend charakterisiert. Franzen hat die Art prägnanter Personenbeschreibung, die mir sofort ein Bild vermittelt und kann Dialoge schreiben, als wären sie abgetippte Tonbandmitschnitte eines echten Gesprächs.

Ein anderer ihrer guten Freunde saß neben dem Hi-Fi-Turm, einen Arm über das oberste Gerät gelegt, die Finger an einem Drehknopf, und nickte im Rhythmus eines blechernen Reggae in Dur. Sein anderer Arm hing in einer Schlinge. Ein Rudel junger Frauen mit Führungsetagen-Kurzhaarschnitt hob und senkte in der Mitte des Zimmers die Füße in der Art nur halb bewusster Tanzschritte, die man auf zu heißem Sand vollführt. (Seite 173)

Auf einer Party mit „Katastrophen-Thema”: Die Leute in der Küche waren ziemlich eindeutig Peters Freunde. Nachtclubbleiche Arme balancierten Zigarettenasche in verschiedene Behältnisse. Drinks zu urbanenen Palimpsest-Gesichtern emporgehoben – Gesichtern von Punk-Yuppie-Hybriden, kobolthaften Frauen in Erdbebenkostümen, einem Homo Nautilus im Pullunder mit zurückgegeltem Haar. (Seite 176)