Die Ehe von Antoine und Christine Doinel scheitert, nachdem Antoine seine Frau mit deren Freundin Liliane betrügt. Zuvor unterstellte Antoine Christine ein lesbisches Verhältnis mit Liliane. Inzwischen ist er in die Schallplattenverkäuferin Sabine verliebt. Antoine und Christine sind das erste Paar, das sich nach dem neuen Scheidungsgesetz, das beiderseitiges Einvernehmen vorschreibt, trennen. Sohn Alphonse bleibt bei Christine.
Als Antoine den Jungen zum Bahnhof bringt, sieht er seine platonische Jugendliebe Colette und springt zu ihr in den Zug. Die beiden streiten sich wegen der Unwahrheiten in Antoines autobiographischem Roman "Liebessalat". Antoine zieht die Notbremse und flüchtet. Er trifft den Ex-Liebhaber seiner toten Mutter und begleitet ihn zum Friedhof.
Wenig später soll Christine zwischen Antoine und seiner neuen Flamme Sabine vermitteln. Sie trifft zwar Sabine nicht, doch Colette, die in Sabines Bruder, den Buchhändler Xavier, verliebt ist. Die beiden Frauen unterhalten sich über Antoine, welcher derweil in Sabines Arme eilt und ihr eine Geschichte erzählt, die Sabine so sehr rührt, dass sie zumindest versuchen will, mit ihm zusammen zu bleiben …
Ich weiß nicht, ob es eine Truffaut‘sche Eigenart seiner Regie darstellt, oder ob es einfach Unvermögen ist: Jean-Pierre Léaud, den ich jetzt zum vierten mal in einem Truffaut-Film sehe, ist mit seinem wenig ausgeprägten Schauspieltalent fehlbesetzt. Wenn er sein Gegenüber ansieht, sieht er nicht sein Gegenüber an, sondern guckt leer geradeaus. Soll er Zärtlichkeit spielen, klatscht er seine Hand über die Wange der jeweiligen Frau, spricht er einen Dialog, lupft er die Augenbrauen und fuchtelt abwechselnd mit Zeigefinger oder Hand. Dazu gesellt sich eine steife Körperhaltung.
Diesem Fönwellen-Typen trau ich keine Ehe zu – nicht mal eine, die wie in diesem Film, nach drei Jahren in die Brüche geht. Aber in diesem Film laufen lauter Protagonisten und Protagonistinnen herum, wie Falschgeld – setzen sich, reden, stehen auf, gehen um einen Baum, setzen sich wieder und sagen dazu seltsame Vergangenheitsbewältigungssätze auf. Es gibt wunderbare Miniaturen, etwa, wenn während der Scheidung Christines und Antoines im dritten Stock unten ein frisch verheiratetes Ehepaar hektisch-glücklich ins Auto einsteigt – Life goes on.
Und ganz nebenbei diskutiert Truffaut weibliche Schicksale in schwierigen Zeiten. Etwa, wenn die auf Aufträge angewiesene Anwältin Colette dem Fön-gewellten Antoine erklärt, wie das wahre Leben Ende der 1970er Jahre aussieht: „Ich werde Ihnen sagen, was aus mir geworden ist. Das Briefchen stammt von dem Kerl auf dem Gang (…) Er bietet mir tausend Francs an, wenn ich mit ihm schlafe, jetzt gleich und hier. Was wollen Sie, Antoine, die Zeiten sind nun mal schwierig. Natürlich habe ich ein abgeschlossenes Jura-Studium, aber jetzt bin ich arbeitslos. Und wie jede Menge andere Frauen, die nicht arg zu übel aussehen, versuche ich es eben. Ja! Ich versuch‘s nachts im Schlafwagen. Das ist meine Spezialität. Der Schaffner bekommt 10 Prozent. Die haben mich jedenfalls verstanden. Wollen Sie mich um tausend Piepen bringen?? Also …“ – unabhängig davon, dass Colette Antoine nur schockieren will, die Botschaft ist beim Zuschauer angekommen.
Der dritte Teil dieser einst schwungvoll erzählten Leichtliebigkeit hat keinen Schwung mehr, was daran liegen mag, dass ein Gutteil des Films aus Rückblenden auf andere Léaud-Truffaut-Filme besteht. Für mehr als ein interessantes Experiment, aus irrealen Filmerzählungen einen eigenen, realen Kosmos zu schaffen, taugt das aber nicht. Es macht den Film in seiner Rückwärtsgewandtheit, in der nach vorne nur irreale Dialoge blicken, schwergängig.
Liebe auf der Flucht ist der letzte Film aus dem Antoine-Doinel-Zyklus. Begonnen wurde dieser mit dem Kinofilm "Sie küssten und sie schlugen ihn". Ein Segment des Films "Liebe mit zwanzig (Antoine und Colette)" erzählt die Geschichte des Protagonisten weiter. Nach Geraubte Küsse traten die von Jean-Pierre Léaud (Antoine) und Claude Jade (Christine) gespielten Figuren in Tisch und Bett und letztmals in "Liebe auf der Flucht" auf.
Truffaut hatte die einzigartige Chance, Filmmaterial aus zwanzig Jahren fiktiver Biographie zu verwenden, so dass Liebe auf der Flucht das Skelett für üppige Rückblenden – freilich unter neuem Kontext – bildet. So findet beispielsweise auch der nicht zum Antoine-Doinel-Zyklus gehörende Film "Die amerikanische Nacht" Verwendung, in dem Dani eine in Léaud (als Filmstar Alphonse) verliebte Scriptvolontärin spielt. In "Liebe auf der Flucht" ist sie nun Christines Freundin Liliane.
Regisseur François Truffaut im Kino
François Truffaut war ein französischer Filmregisseur, Filmkritiker, Schauspieler und Produzent. Er wurde am 6. Februar 1932 in Paris geboren und starb am 21. Oktober 1984 in Neuilly-sur-Seine.
Mit der Neubelebung des Autorenfilms ab Ende der 1950er Jahre gilt Truffaut in der französischen Filmgeschichte mit Jacques Rivette, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und Éric Rohmer als einer der maßgeblichen Begründer der Nouvelle Vague.
- Ein Besuch (Une Visite – 1955) – der Film gilt als verschollen
- Die Unverschämten (Les mistons – 1957)
- Eine Geschichte des Wassers (Une histoire d'eau – 1958) – Regie mit Jean-Luc Godard
- Sie küßten und sie schlugen ihn (Les quatre cents coups – 1959)
- Schießen Sie auf den Pianisten (Tirez sur le pianiste – 1960)
- Jules und Jim (Jules et Jim – 1962)
- Liebe mit zwanzig (L’amour à vingt ans – 1962)
- Die süße Haut (La peau douce – 1964)
- Fahrenheit 451 (Fahrenheit 451 – 1966)
- Die Braut trug schwarz (La mariée était en noir – 1967)
- Geraubte Küsse (Baisers volés – 1968)
- Das Geheimnis der falschen Braut (La sirène du Mississippi – 1969)
- Der Wolfsjunge (L’enfant sauvage – 1970)
- Tisch und Bett (Domicile conjugal – 1970)
- Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent (Les deux anglaises et le continent – 1971)
- Ein schönes Mädchen wie ich (Une belle fille comme moi – 1972)
- Die amerikanische Nacht (La nuit américaine – 1973)
- Die Geschichte der Adèle H. (L’histoire d'Adèle H. – 1975)
Taschengeld (L’argent de poche – 1976) - Der Mann, der die Frauen liebte (L’homme qui aimait les femmes – 1977)
- Das grüne Zimmer (La chambre verte – 1978)
- Liebe auf der Flucht (L’amour en fuite – 1979)
- Die letzte Metro (Le dernier métro – 1980)
- Die Frau nebenan (La femme d'à côté – 1981)
- Auf Liebe und Tod (Vivement dimanche! – 1983)