Buchcover: Jan Brandt – Gegen die Welt
Ein großer Roman aus vergangener Zeit
präzise, witzig, optisch herausfordernd
Titel Gegen die Welt
(Gegen die Welt)
Autor Jan Brandt, Deutschland 2011
Verlag Dumont
Ausgabe Taschenbuch, 920 Seiten
Genre Drama
Website gegendiewelt.de
Inhalt

Ein Dorf in Ostfriesland, Kühe grasen auf den Wiesen, ab und zu zerreißt der Lärm eines Tieffliegers die Stille. Hinter den getrimmten Tujenhecken des Neubauviertels blühen die Blumen, in den Auffahrten glänzen frisch gewachste Neuwagen.

In diese Welt wird Mitte der Siebzigerjahre Daniel Kuper, Spross einer Drogistendynastie, hineingeboren. Ein schmächtiger, verschlossener Junge mit viel zu viel Fantasie und zu wenigen 
Möglichkeiten. Doch bald geschehen seltsame Dinge: Mitten im Sommer kommt es zu heftigem Schneefall, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler stellt sich auf die Bahngleise, Hakenkreuze tauchen an den Hauswänden auf.
Für all das wird Daniel Kuper verantwortlich gemacht. Und je mehr er versucht, die Vorwürfe zu entkräften, desto stärker verstrickt er sich in ihnen. Daniel Kuper beginnt einen Kampf gegen das Dorf und seine Bewohner. Sie sind es, gegen die er aufbegehrt, und sie sind es, gegen die er am Ende verliert …

(aus dem Klappentext)

Was zu sagen wäre
Gegen die Welt

Ein tolles Buch! Eines ohne auf den ersten Blick sichtbaren roten Faden, denn auch Daniel Kuper, die Hauptperson, verliert die großartige Erzählung hundertseitenweise aus den Augen. Ein Buch, das sich nicht dem Korsett reinen Textes unterordnet – Jan Brandt nutzt Lithografien, Fotos, um Zeitkolorit zu erzeugen oder Informationen abzukürzen, wird Daniel im letzten Fünftel des Buches immer wieder mal ohnmächtig, verblasst mit seinem Bewusstsein die Schrift. Über 180 Seiten erzählt Brandt zwei Geschichten nebeneinander, geteilt durch einen grauen Strich; oben geht die Haupthandlung weiter, unten entsteht die in Ich-Form erzählte Lebensbeichte eines Lokführers, der mit „bislang“ zwei Selbstmördern auf seinem Gleis klar kommen muss.

Nach 920 Seiten habe ich eine ganze Welt erfahren, eine Zustandsbeschreibung deutscher Befindlichkeiten im Wendedeutschland – die hauptsächliche Geschichte spielt zwischen 1983 und 1999 – mit exakt memorierten Dialogformen und Produkten; da gerät der Roman schon mal zum Sammelalbum zeitgeschichtlicher Dinge, wenn Brandt hier eine Seite lang Produkte aufzählt oder dort eine Seite Automarken – jedes penibel inklusive PS-Angabe – oder wieder an anderer Stelle allerlei Einzelhändler mit Sortiment, die deutlich machen, was wir in den zurückliegenden 30 Jahren verloren haben. Die Inhaber geführten Fachgeschäfte im fiktiven Ort Jericho kämpfen schon ihr letztes Gefecht gegen das Unbesiegbare, Daniels Vater Hard wird sich früher oder später dem SCHLECKER-Konzern mit weniger Fachberatung, aber billigeren Verkäuferinnen ergeben müssen.

Dass Brandt eine Kleinstadt als Ort der Handlung wählt, in der nachts „nur das A der Apotheke und das S der Sparkasse sichtbare Zeichen“ ist, mag mit seiner Herkunft aus Leer zusammenhängen, dem das fiktive Jericho nachempfunden sein soll. Mir kommt es ein wenig so vor, als habe an diesen Seiten Stehen King Einfluss gehabt. Wenn die Jugendlichen zusammensitzen und – sehr genau beobachtet – in Fantasiesprache über Musik, Filme, Lehrer sprechen, fühle ich mich ganz im Kosmos von King-Klassikern wie „Die Leiche – Stand by me“, „Es“ oder „In einer kleinen Stadt“. Auch King wusste: Will man Spannung erzeugen und erzählen, wie Strukturen ins Wanken geraten, geht man am Besten in die Kleinstadt. Da garantieren Schützenverein und neugierige Nachbarn den das-haben-wir-noch-so-gemacht-Status. Die „Zeit“ sprach von einem Dorf in Sehrnahaufnahme.

Natürlich hat der Roman dann doch einen roten Faden. Der zeigt sich nicht in einer Wer-ist-der-Mörder- oder-Clown-frisst-Kinder-Handlung, aber im atemberaubend präzisen Handwerk des Erstlingstäters Jan Brandt, der sich bisher mit Shortstories einen Namen gemacht hat und an diesem 920-Seiten-Buch rund zehn Jahre gearbeitet haben soll. Fantastisch, was er alles aus seinem Kopf geholt und wie geschickt er sein Material sortiert und verschachtelt. Langweilig ist das Buch auf keiner Seite, auch wenn noch nicht klar ist, wo es hingehen soll – und damit lässt sich der lakonisch erzählte Text viel Zeit.

Brandt ist gelungen, was Kollegen wie Florian Illies einst nur für Anekdoten gelang und damit aber ein Genre gründete: Brandt hat den Ach-weißt-Du-noch-Roman der Babyboomer geschrieben, eine große Erzählung vom Zerfall einer Gemeinschaft und dem Monster des Biedermanns in ihrer Mitte. Es sind die letzten Atmer einer Gesellschaft, die sich als „Deutschland AG“ zu feiern verstand, bevor die Globalisierung, die Wiedervereinigung, der Euro alles umwälzte.

Ich habe Gegen die Welt vom 22. Juli bis 22. August 2013 gelesen.