Schauspieler Riggan Thompson war vor langer Zeit weltbekannt für seine Darstellung des Comic-Helden Birdman in dem gleichnamigen Blockbuster – und in zwei Fortsetzungen. Danach kam nicht mehr viel. Heute ist er über 60, seine Kinokarriere Vergangenheit, sein Geld in der Scheidung sowie der Entzugsklinik für Tochter Sam.
Um seine Karriere wiederzubeleben, versucht sich Thompson als Bühnenschauspieler, Autor und Regisseur. Und er versucht es am Broadway. Sein Projekt ist eine von seinem besten Freund Jake produzierte Bühnenadaption von Raymond Carvers Kurzgeschichte „What We Talk About When We Talk About Love“. Und die Zeichen stehen eher auf Desaster. Nicht nur hört Riggan unablässig Stimmen – genauer: die Stimme von Birdman, die ihm einflüstert, er solle zurück nach Hollywood und den ganzen brotlosen Bühnenscheiß vergessen; in der Bar nebenan sitzt auch Tabitha, Kritikerin der New York Times, die mit spitzer Feder schon am Verriss des Stückes schreibt, ohne es gesehen zu haben.
Und – das auch noch – er braucht einen Ersatz für die wichtigste Nebenrolle. Schließlich besetzt er sie mit Mike Shiner, der derzeit angesagten großen Hoffnung am Broadway – hochtalentiert und ein egozentrisches Arschloch mit künstlerischem Anspruch. Dieser Shiner ist ohne Rampenlicht, ohne Zuschauer ein inhaltsleerer Niemand, aber auf der Bühne … wird er Riggan womöglich in den Schatten stellen, also dessen letzten Rettungsanker zerstören.
Um Sam kümmern muss er sich auch noch. Seine Tochter hat den Entzug hinter sich und hat am Theater als Produktionsassistentin angeheuert. Und in drei Tagen ist Premiere …
Wenn Du Schauspieler bist, wird die Welt zu deiner Bühne, das Leben Dein Publikum. In Alejandro González Iñárritus "Birdman" ist die Welt da draußen eine amorphe Masse auf-ihre-Smartphones-stierender-Kreischhälse, die sich von Twitter und Junkfood ernähren. Wie ganz oft in den Filmen von Iñárritu ("Biutiful" – 2010; "Babel" – 2006; 21 Gramm – 2003; "Amores perros" – 2000) ergänzen sich komplexe Dramen mit komplexer Bildtechnik, bei der sich klassisches Schauspielerkino neben ausgefeilter, sophisticated Tricktechnik entfaltet. Beim vorliegenden Film kommt hinzu: Auf der Metaebene ist er selbst-, selbst-, selbstreferentiell.
Applaus-Junkies contra Smartphone-Junkies
In "Birdman" findet das Leben im Theater statt – dort aber ganz und gar abhängig vom Applaus der Smartphone-Junkies vor der Tür; und von den Worten der großen Kritiker, die hier in Person der NYT-Kritikerin Tabitha in der Bar nebenan sitzt und über Existenzen entscheidet, indem sie unter dem unzerstörbaren New-York-Times-Cape mit leeren Worthülsen ebenso einflussreich ist, wie Birdman mit seinen maskierten Superkräften. Es gibt eine wunderbare Szene, in der Dramaturg/Regisseur/Schauspieler Riggan Thompson, der gespielt wird von Michael Keaton, der vor 25 Jahren (vor einer Ewigkeit) mal den Superhelden Batman gespielt hat, mit Worten, die ihm Autor/Regisseur Iñárritu aufgeschrieben hat, das Wesen der Kulturkritik, ob Theater oder Film, seziert und der arroganten Kritikerin um die Ohren haut und das Wunderbare an dieser Szene ist, dass die Kritikerin im Herzen ihrer Kritik Recht hat, wenn sie beklagt, dass immer wieder „Promis, die sich als Schauspieler“ aufspielten, an den Broadway kämen, um dort den Applaus zu ernten, der ihnen in ihren albernen Millionensellern auf der Leinwand verwehrt bliebe. Dabei hätten diese Promifiguren „gar keine Ausbildung“, faucht sie. Die Auswirkungen dieser Kultur setzt Iñárritu als bekannt voraus, zeigt sie uns zur Sicherheit aber nochmal in Person der zahllosen Eventkulturbanausen draußen vor der Theatertür.
Michael Keaton also spielt diesen Birdman. Und – ganz nebenbei – spielt Edward Norton Keatons Antagonisten Mike Shiner, jener Edward Norton, der mal den Hulk (2008) gespielt hat, und Emma Stone, die Keatons Tochter Sam spielt, hat mal Gwen Stacy gespielt, die Freundin von Spider-Man (2012) – das zeigt zum einen, dass auch ernst zu nehmende Schauspieler heute am Birdman–Genre kaum vorbei kommen und ist zum zweiten ein weiteres Luftkissen, auf dem Iñárritus Film schwebt. Denn Michael Keaton spielt eine Version Michael Keaton 2.0 und Ed Norton eine Version Edward Norton 2.0. (Des echten) Nortons künstlerisch-elitäre Ausfälle an diversen Filmsets sind Legende; hier darf er sich endlich erklären, lebt auf als impotenter Künstler, der nur im Scheinwerferlicht zu allem in der Lage ist. „Im richtigen Leben bin ich dauernd jemand anders.“
Michael Keaton spielt Michael Keaton 2.0
Und Riggan Thompson, dieses arme Schwein? Wer damals Michael Keaton erlebt hat, wie er für Batman auf Interviewtour durch Europa seine ganze Lustlosigkeit und sein Desinteresse an der erfolgreichen Figur, die er da spielte, in die Mikrofone verbreitete, der bekommt eine ungefähre Ahnung, wie es diesem Riggan Thompson nach Birdman ergangen ist. Zwar spielte er die Haupt- und Titelrolle, aber alle sprachen beim Batman-Film immer nur über Jack Nicholson und Regisseur Tim Burton – über Burton, weil der ein klares Konzenpt verfolgte, über Nicholson, weil der einen cleveren Millionenvertrag ausgehandelt hatte. Über Batman/Bruce Wayne/Michael Keaton sprach keiner; am wenigsten er selber. Auch Keaton hat nach Batman interessante Filme gedreht mit komplexen Figuren (RoboCop – 2014; Jack Frost – 1998; Jackie Brown – 1997; Schlagzeilen – 1994; Viel Lärm um nichts – 1993; Batmans Rückkehr – 1992; Fremde Schatten – 1990; "Süchtig" – 1988; Beetlejuice – 1988; She's Having a Baby – 1988; "Gung Ho" – 1986; "Mr. Mom" – 1983) – das hat nur kaum jemanden interessiert.
Das müsste hier alles keine Rolle spielen, wenn nicht Keatons Riggan Thompson sie selbst herbeizitieren würde, wenn er im Zwiegespräch mit dem imaginären Birdman dessen markantes Kinn veralbert – dieses Kinn war das einzige, was über Keatons damaligen Batman Erwähnung fand.
Es lebe die Selbstreferenzialität
Iñárritus Film ist ein Film über Theater in einem Film, in dem Superhelden versuchen, den Bezug zum richtigen Leben über das Werkzeug der Bühne zu erreichen, vor der Kritiker Gott spielen und sich mit der Kunst verwechseln.
Kann aber auch sein, dass er nur ein brillant erzählter Drogentrip Sams ist, jener Figur, die Emma Stone so wunderbar verkörpert (Magic in the Moonlight – 2014; Gangster Squad – 2013; The Amazing Spider-Man – 2012; The Help – 2011; Crazy, Stupid, Love. – 2011; Einfach zu haben – 2010; Zombieland – 2009), dass jedes Mal die Leinwand noch etwas mehr strahlt, als sie das ohnehin schon tut.
Denn nicht nur Stone, Michael Keaton und Edward Norton (Grand Budapest Hotel – 2014; Das Bourne Vermächtnis – 2012; Moonrise Kingdom – 2012; Der unglaubliche Hulk – 2008; Königreich der Himmel – 2005; The Italian Job – 2003; Roter Drache – 2002; Tötet Smoochy – 2002; The Score – 2001; Glauben ist alles! – 2000; Fight Club – 1999; American History X – 1998; Larry Flynt – Die nackte Wahrheit – 1996; Alle sagen: I love you – 1996; Zwielicht – 1996) sind zum Niederknien gut – auch hat sich Iñárritu für seinen Film über das Theater für die naheliegenste Erzählweise entschieden: Wie auf der Bühne kommt sein Film weitestgehend ohne (sichtbare) Bildschnitte aus.
Die Kamera ist sehr nah dran
Diese Erzähltechnik hat Alfred Hitchcock 1948 wenig erfolgreich mit Cocktail für eine Leiche ausprobiert; hier funktioniert diese für alle Gewerke inklusive Schauspieler extrem anspruchsvolle Technik besser, macht die Erzählung sehr dicht, sehr nah und überträgt die Ängste und Psychosen seiner Figuren unmittelbarer, als wenn sie durch Schnitttechnik abstrahiert würden.
Wie gesagt: Die Welt ist Deine Bühne. Es gibt kein Versuchen. Es gibt keinen Schnitt, kein Alles-auf-Anfang. Iñárritus Film kann für lange Abende in der Kneipe nach dem Film sorgen. Großartig!
"Birdman" wurde mit vier Oscars ausgezeichnet:
- Bester Film
- Regie
- Drehbuch (Original)
- Kamera