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Kinoplakat: Alles steht Kopf

Pixar hat wieder ein Funken
sprühendes Wunder geschaffen

Titel Alles steht Kopf
(Inside Out)
Drehbuch Pete Docter & Ronaldo Del Carmen & Meg LeFauve & Josh Cooley
Regie Pete Docter + Ronaldo Del Carmen, USA 2015
Stimmen

Amy Poehler, Nana Spier, Phyllis Smith, Philine Peters-Arnolds, Bill Hader, Olaf Schubert, Lewis Black, Hans-Joachim Heist, Mindy Kaling, Tanya Kahana, Kaitlyn Dias, Vivien Gilbert, Diane Lane, Bettina Zimmermann, Kyle MacLachlan, Kai Wiesinger, Richard Kind, Michael Pan, Paula Poundstone, Almut Zydra, Bobby Moynihan, Hans Hohlbein, Paula Pell, Katja von Garnier, Franziska Pigulla, Dave Goelz, Dietmar Bär, Frank Oz, Klaus J. Behrendt, Josh Cooley, Hans-Eckart Eckhardt, Flea, Dirc Simpson, John Ratzenberger, Jürgen Heinrich, Carlos Alazraqui, Claudio Maniscalco, Peter Sagal, Tobias Lelle, Rashida Jones, Lori Alan, Martina Treger, Sherry Lynn, Laraine Newman u.a.

Genre Animation
Filmlänge 97 Minuten
Deutschlandstart
1. Oktober 2015
Website pixar.com
Inhalt

Riley ist 11 Jahre alt. Für Mädchen ist das ein schwieriges Alter. Vor allem, wenn man wie sie gerade aus dem idyllischen Minnesota nach San Francisco umgezogen ist.

Riley tut sich ein wenig schwer damit, sich in ihrer neuen Umgebung einzuleben, speziell in der Schule; an die Mitschüler muss sie sich erst gewöhnen. Aber nicht nur sie. Auch die Stimmen in ihrem Kopf müssen sich umgewöhnen.

Nein, Riley ist nicht verrückt oder so etwas. Es sind die Stimmen, die jeder von uns in sich hat – die Stimmen der Freude, des Kummers, der Angst, der Wut und die des Ekel. Diese fünf sind es im Prinzip, die den Charakter eines jeden Menschen von Babybeinen an formen. So eben auch Rileys.

Mit Rileys Geburt wurde gleichzeitig ihre Emotionszentrale gestartet. Freude, ihre erste Emotion, betrat das Kontrollzentrum und erblickte Rileys Eltern, die von Riley angelächelt werden. Die erste positive Erinnerung wurde abgespeichert. Aber schon tauchte Kummer auf, woraufhin Baby Riley anfing zu schreien.

Als Riley elf Jahre alt ist, zieht sie mit ihren Eltern nach San Francisco. Es stellt sich heraus, dass der Umzugswagen nicht rechtzeitig eintrifft, sodass sich die Familie provisorisch einrichten muss. Freude versucht, die angespannte Situation ins Positive zu retten, jedoch gerät die Lage an Rileys erstem Tag in der neuen Schule außer Kontrolle: Riley soll sich vorstellen und bricht in Tränen aus.

In Rileys Gefühlswelt haben sich mittlerweile längst auch die Emotionen Angst, Wut und Ekel häuslich eingerichtet. Und Kummer stellt angesichts Rileys Tränen in der Schule etwas Dummes an: Sie berührt Rileys Kernerinnerungen, die sich sofort von Freude-Gelb zu Kummer-Blau ändern. Im anschließenden Durcheinander werden Rileys Kernerinnerungen – die den Grundstein ihrer optimistischen Persönlichkeit bilden – mit der Rohrpost zusammen mit Freude und Kummer in das Langzeitgedächtnis befördert werden. Das bringt Riley Gefühlswelt erheblich durcheinander.

Gemeinsam mit Kummer macht sich die unerschütterlich optimistische Freude auf die Suche nach den wichtigen Erinnerungen, bevor Riley bleibende Schäden davon trägt. Da Riley ohne Freude und ihre Kernerinnerungen verloren ist, müssen Freude und Kummer schnellstens zurückfinden. Auf ihrem Trip treffen sie auf Bing Bong, Rileys Fantasiefreund aus Kindertagen. Er schlägt vor, den Gedankenzug zu nehmen. Währenddessen beraten die verbleibenden Emotionen in der Kommandozentrale, wie es ohne Freude und die Kernerinnerungen weitergehen soll; drei der fünf Erinnerungsinseln, die aus den Kernerinnerungen gespeist wurden, sind bereits abgestürzt. Wut schlägt vor, wegzulaufen und in Minnesota neue positive Erlebnisse zu sammeln. Er bringt Riley auf den Plan und damit die letzten verbleibenden Erinnerungsinseln, die Ehrlichkeits- und die Familieninsel, ins Wanken. Als letztere abstürzt, reißt sie die Gleise des Gedankenzugs mit sich, sodass Freude, Kummer und Bing Bong wieder im Langzeitgedächtnis landen. Freude versucht, über die Rohrpost zurückzukehren, allerdings wird diese zerstört, als weitere Teile abstürzen. Freude und Bing Bong fallen in den Abgrund, in dem Erinnerungen entsorgt werden …

Was zu sagen wäre

Was macht die individuelle Persönlichkeit eines Menschen aus? Spätestens nach diesem intelligenten Filmereignis ist die Frage geklärt. Es sind die fünf Grundemotionen, deren jeweilige Stärke bei jedem Menschen anders ausgeprägt ist – dadurch ist einer fröhlich, ein anderer depressiv; im Kopf eines Busfahrers sitzen auch fünf Emotionen, abe es ist fünf mal die Wut – deswegen sind Busfahrer immer scheiße drauf (sagt dieser Film). Es ist eine Zeit lang her, dass Pixar einen eigenen Film in die Kinos brachte. Das war 2013 die Fortsetzung der Monster AG – und eine Enttäuschung. „Inside Out“ ist ein Juwel und im diesjährigen Kino ein sicherer Kandidat für die Top Five.

Es ist ein Spielfilm im besten Sinne des Wortes. Er wirkt verspielt, manchmal naiv – es geht schließlich um Gefühle – nie verkopft und kann das kluge Gehirn, das diesen Film ersonnen hat, hinter einem Kaleidoskop guter Ideen und Überraschungen nur schwer verbergen. Wie sieht die Gedankenwelt eines elfjährigen Mädchens aus? Sehr bunt! Fröhlich. Mit Wolkenkuckucksheim zum wegpusten und Fritten, mit denen man Stabhochspringen kann. Da gibt es Putzkolonnen, die überflüssige Erinnerungen aus den vollen Regalen holen – „Telefonnummern? Pah, sind alle im Handy gespeichert! Weg damit. Auswendig gelernte Gedichte?? Na gut, eins für Weihnachten, eins für Oma. Der Rest kann weg“ – da gibt es kartoffelförmige Polizisten (denen in der deutschen Fassung die Kölner Tatort-Kommissare Dietmar Bär und Klaus J. Behrendt ihre Stimmen leihen), die die Pforten zum Unterbewusstsein bewachen und es gibt meterhohe, goldgelbe Regale voll mit Erinnerungskugeln, in die man hineinschauen kann, wie in die verwunschene Kugel einer Wahrsagerin. Zwischen all den Regalen streift der unsichtbare Freund des kleinen Mädchens umher, das Riley einst gewesen war – vergessen, aber offenbar noch nicht abgearbeitet, geistert er einsam durch die Gedankenwelt, ein pinkfarbenes Wesen namens Bing Bong, „ein Teil Zuckerwatte, ein Teil Elefant und ein Teil Delfin“, das sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder mit dem Mädchen spielen zu können – aber was kann ein elfjähriges Mädchen, das seine Sinne beieinander hat, schon mit einem unsichtbaren Freund aus Kleinkindtagen anfangen? Die einzig plausible, realistische Antwort darauf bleibt uns das Kreativ-Team um Regisseur Pete Doctor nicht schuldig.

Währenddessen liegen im dunklen Schlund des Riley'schen Vergessens die Kugeln der alt gewordenen Erinnerungen, grau und stumpf geworden, die nach und nach unter leisen Rieselgeräuschen verdampfen, verschwinden im Nichts, so, dass es mir im Kinosessel für Momente schwer ums Herz wird … so wahrhaftig ist diese Szene. Pixarfilme sind selten einfach nur bunt und lustig; die besseren, zu denen dieser Film zählt, tragen die ganze Bandbreite des Lebens in sich, auch die grauen Bereiche. Wenn Kinder erwachsen werden und sich ihre Kindheitserinnerung warm gehalten haben, dann entstehen Filme wie dieser oder Toy Story.

Riley muss ein Mädchen sein. Mit einem Jungen hätte die Geschichte nicht funktioniert; Jungen sind in diesem Film entweder eitle Playstation-Trottel oder Wesen, die panischer Agonie verharren, wenn sie einem Mädchen begenen – in einer grandiosen Szene hebt Riley einen Trinkbecher auf, den der Junge vor ihr hat fallen lassen. Der Film schaltet in dessen Kopf, in dem rote Alarmlampen blinken, die fünf Emotionen panisch schreiend durcheinander rennen und eine Warnlämpfe mit dem Schriftzug „MÄDCHEN“ dauerblinkt. Der dritte Junge im Film, Rileys Vater, bleibt ein unscharfer Schluffi – irgendwie wohl Projektmanager von irgendwas, was nicht recht in die Gänge kommt, unrasiert und seinen Gefühlshaushalt dominiert der rote Feuerkopf Wut. Obwohl Rileys Dad nur einmal ein wenig böse wird – aber auch dieser Zorn schnell verraucht. Nein, mit Männern kann die Männerrunde bei Pixar in diesem Film nichts anfangen; alle handelnden Personen sind weiblich. Klar: Frauen haben Gefühle, Männer verwalten strategische Aggressionen und wollen ansonsten Fußball gucken. Das kann man(n) doof finden und als ziemlich gestriges Klische brandmarken. Wenn es denn den Film stören würde; was es nicht tut.

Im Gegenteil: Diese arme Riley durchlebt in den 95 Minuten ein Gefühlschaos, das sie an den Rand des Abgrunds treibt, in dem sie sich dann in schwarzen Klamotten durch die dunkle Nacht zum Busbahnhof schleicht, von Zuhause wegläuft, während in ihrer Gedankenwelt die letzte der erinnerungsinseln – die Familieninsel – bröckelt. Da spielt die Frage Junge oder Mädchen gar keine Rolle. Schaut man sich in der großen Trickfilmhistorie der Disney-Studios um, zu denen Pixar ja gehört, stellt man ohnehin fest, dass die interessantesten Klassiker von Heldinnen getragen wurden – DornröschenSchneewitchenAristocats, Arielle, die schöne Belle, die das Biest erlöst, die Eiskönigin, die Mäusedame Bianca und so weiter – Balu, Baghira und Shir Khan sind eher sowas wie die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

„Inside Out“ treibt uns Zuschauer, wie sich das gehört in einem Film über die Gefühlswelt, durch alle Stufen der Emotionen. Ich staune großäugig lachend über die Fantasie, die dieser Film entfaltet, ich möchte Kummer wütend schütteln, wenn die wieder eine schöne gelbe Erinnerung in eine depressive blaue verwandelt … weil sie so doof ist – in Wirklichkeit allerdings, wie sich herausstellen wird, nur ihrer normalen – Obacht! – menschlichen Natur entsprechend handelt. Ich heule, wenn sich die desaströsen Fäden am Ende beginnen, neu zu verbinden und den ganzen Zauber menschlicher Entwicklung offenbaren. Natürlich habe ich Angst, als das Chaos immer größer wird, anstatt abzunehmen. Nur ekeln tue ich mich nicht. Aber die grüne Ekel ist ja auch irgendwie eher eine Tussi mit Halt-bloß-Abstand-Alter-Attitüde, aber dem Herz dann doch auf dem rechten Fleck. Denn – und das ist entscheidend – erst das Zusammenspiel aller Fünf macht den Charakter des Menschen aus und der wiederum formt die Stärke jeder einzelnen Emotion. Riley, das glückliche Kind aus gesundem Elternhaus, wird beherrscht von Freude, der die anderen vier willig zuarbeiten. Beim Busfahrer gibt es – siehe oben – nur noch Wut, da sind die anderen vier Emotionen lange verloren gegangen, bei Rileys Dad, dem Geschäftsmann und Familienoberhaupt, herrscht die runtergedimmte Wut, bei Rileys Mom, dem pragmatischen Muttertier, die erwachsene, an der Realität des Lebens gereifte Kummer. Deshalb ist die grüne Ekel in Rileys grundsätzlich heiler Gefühlswelt eigentlich ein ziemlich knuddliges Ding.

Dieser intelligente Film macht eifersüchtig auf die Mitarbeiter in den Pixar-Studios. Diesen Film machen zu dürfen – ihn zu ersinnen, damit bei den Bossen auf offene Ohren zu stoßen, ihn ausarbeiten zu müssen und schließlich umsetzen zu können, obwohl er sich weder leicht in einen griffigen Kernsatz zusammenfassen lässt („Triff die kleinen Stimmen in Deinem Kopf“?) noch gar dem marketinggerechten, bunten Ex-und-Hopp-Kino entspricht – muss ein Geschenk sein. Wahrscheinlich haben auch Pixar-Mitarbeiter mal einen roten Wut-Tag oder einen grünen Ekel-Tag. Aber sicher eher selten. und wenn sie mal Kummer überrollt, machen sie daraus so etwas Schönes wie „Inside Out“.

Wertung: 8 von 8 €uro
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